STATT EINER WEITEREN EINLEITUNG - EISENBAHNFAHRTEN IN INDIEN
Klaus Dierks
© Dr. Klaus Dierks 1982-2004
Jede Himalaya-Expedition nach Nepal kommt mit der völlig anderen Welt des Hinduismus und Buddhismus in Berührung. In Nepal begegnen sich die Kulturwelten des indischen Subkontinentes und die des Schneelandes Tibet. So wie man sich langsam an die physische Höhe gewöhnen muß, ist es wichtig, sich ohne allzu großen Kulturschock an die geistige Welt Indiens anzupassen. Die Akklimatisierung erfolgt am besten mittels einer Indiendurchquerung auf dem Landweg. Hier wird das Interessante mit dem Nützlichen verbunden, denn dadurch kann eine Menge Geld gespart werden. Das ist besonders für den devisenabhängigen Bürger eines Afrikalandes sehr wichtig und Grund genug für die lange, heiße, staubige und menschendurchwirbelte Eisenbahnfahrt durch Indien.
Indien ist wie immer: unverändert und unveränderlich. Es bietet das ewig gleiche Bild, eine unvorstellbare Zusammenballung von Elend, Armut und Dreck auf der einen Seite und die Welt der modernen Technologie auf der anderen. Schon am Ankunftsflughafen wird man von unvergleichlichem, irrem Chaos geschluckt. Die feuchte Hitze, die an ein türkisches Dampfbad erinnert, der klebrige Dreck, die Angst vor Ansteckung und Krankheiten, der undefinierbare Geruch Indiens nach Feuerrauch, Betelsaft, Urin und menschlichen Exkrementen, nach Weihrauch, Sandelholz, verfaulenden Früchten und geheimnisvollen Gewürzen: alles das gehört dazu!
Am Bahnhof ist das Durcheinander noch größer als am Flughafen. Selbst erfahrene Reisende fühlen sich geradezu erschlagen. In dem üblichen und völlig überwältigenden Menschengewimmel drängt und kämpft sich jeder rücksichtslos durch. Disziplin und ein wenig Rücksicht auf den Nächsten gibt es in diesem Lande nicht. Die feucht-heiße Luft wird von zahlreichen Ventilatoren umhergekreist. Wenigstens dieses Überbleibsel aus der Zeit der "Raj", der "guten, alten britischen Kolonialzeit", funktioniert noch.
Normales Bahnhofsgetriebe im Victoria Terminus in Mumbai
(Bombay)
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Der schmutzige, von Speichel und Betelsaft bedeckte Boden auf den Bahnsteigen und den Bahnhofsvorhallen ist mit elenden Menschenbündeln belegt, die sich kaum bewegen, wenn man über sie hinweg steigt. Man sieht auch immer wieder einige abgerissene, vermutlich rauschgiftsüchtige europäische Wracks, die hier im erbarmungslosen Indien langsam zugrunde gehen. Rotgewandete Gepäckträger, die wie Scharfrichter aussehen, balancieren auf ihren Turbanen übereinandergestapelte Gepäcktürme von Riesenblechkoffern, Bettrollen und Bündeln.
Da nichts in Indien einfach und unkompliziert ist, geht die Zugabfahrt auch nicht ohne Probleme vonstatten. Ich will mich gar nicht darüber auslassen, wie man sich schweißtriefend einen Weg durch den wahnsinnig gewordenen Mob bahnt, der den gerade einfahrenden Zug stürmt. Auch von der ständigen Angst, daß in dem Chaos etwas von dem kostbaren Expeditionsgepäck abhanden kommen könnte, will ich nicht reden. Das ist ganz normaler Reise-Alltag in Indien, sofern man nicht im behüteten Schneckenhaus einer organisierten Reisegruppe oder als verhätschelter Staatsgast fährt. Man gerät jedoch immer wieder in gewalttätige Demonstrationen von Tausenden von brüllenden, knüppelschwingenden Indern, Demonstrationen gegen den Hunger und das nicht lösbare Problem der Arbeitslosigkeit. Indien ist ein bereits vorweggenommener Alptraum des 21. Jahrhunderts. Die Überbevölkerung und die wirtschaftlichen Probleme scheinen unveränderbare Wirklichkeit zu sein.
Die Eisenbahnfahrt gibt, sobald man die bürokratischen Hemmnisse überwunden hat und im stolzen Besitz einer reservierten Erste-Klasse- Fahrkarte ist, einen guten Überblick über den bunten, problembeladenen indischen Alltag. Wer in der zweiten Klasse fährt und dort einen Platz erstürmt hat, tut gut daran, diesen und sein Gepäck bis zum Ankunftsbahnhof nicht mehr zu verlassen, auch wenn die Bahnfahrt vierundzwanzig Stunden oder länger dauert. Das Abteil ist bis zur Decke vollgepfropft mit Menschentypen aus allen Ecken des indischen Subkontinentes, mit Säcken, Blechkoffern mit riesigen Vorhängeschlössern, Bettrollen, Frauen in farbenfreudigen Saries und Ringen oder Knöpfen in der Nase, die mit angezogenen Beinen auf den Bänken hocken, mit Männern mit locker geschlungenen Lendentüchern und Turbanen oder in flatternden Nachthemden, sowie auch mit Hühnern, Bananenbündeln und Flöhen.
Indischer Bahnhof (Jalgaon zwischen Mumbai und
Allahabad) im Dampfzeitalter, das auch in Indien in den 1990iger Jahren zu Ende gegangen
ist
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Bei jedem Halt auf einem Bahnhof geht draußen das Geschrei der Händler - auch nachts - los, die sich auf den einfahrenden Zug stürzen: Eine "Kleine Nachtmusik für fünfzig Schakale auf Indiens Bahnhöfen"! Dazwischen sieht man auf den Bahnsteigen ausgemergelte Mütter mit schwärenbedeckten Babys auf dem Arm, Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen und uralten Gesichtern, reglos auf der Erde hockende Greise, kaum mehr als ein Gerippe in einem zerfetzten Tuch, zusammengekrümmte Stoffbündel, die zwischen Dreck und Kot und von Fliegenschwärmen umschwirrt, einfach daliegen und mit schlafenden Menschen keine Ähnlichkeit mehr haben. Eine von Falten zerfurchte Bettlerin klatscht auf ihren nackten Bauch und fleht flüsternd den Segen Shivas auf den mildtätigen Spender herab. Ein Sikh-Polizist drischt mit einem großen Holzknüppel auf die Bettler ein.
Bahnhofsszenen auf einem indischen Bahnhof (Allahabad)
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Eine der zahlreichen "heiligen Kühe" trabt durch das allgemeine Chaos und Geschrei seelenruhig am Zug entlang. Sie macht sich über die Bananenbündel eines der zahllosen Händler her, der seelenruhig neben seinen Schätzen schläft. Vom Gemampfe des heiligen Tieres aufgeweckt, jagt er dieses von dannen, das mit dem Maul voller Bananen davon trabt. Auf die herunterfallenden, halb zerfressenen Bananen stürzen sich sofort die Bettler.
Bahnhof Lucknow
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Ein splitterfasernackter Fakir fällt in diesem indischen Idyll gar nicht mehr auf. Heilige Männer, auch Sadhus genannt, mit kahlgeschorenen Köpfen, auf denen nur ein rudimentäres "Hindu-Haarbüschel" steht, in orangefarbene Gewändern gehüllt, wollen eine milde Gabe. Kinder stehen auf dem Kopf oder laufen auf den Händen, um von den interesselos zu-schauenden Reisenden ein kleines "Bakschisch" zu ergattern. Arbeitselefanten laden am Güterbahnhof Baumstämme. Alles dies ist normalstes indisches Leben, überlagert von der dazugehörigen Duftwolke, die in der immensen, feuchten Hitze verdampft.
Irgendwo in Indien
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Die Züge sind ständig so überfüllt, daß man den Eindruck gewinnt, ganz Indien sei gleichzeitig unterwegs. Wer in diesem Lande eigentlich produktiv tätig ist, ist oft nicht so ganz ersichtlich. Nachts sollte man die Abteile abriegeln, da Züge auf offener Strecke immer wieder von bewaffneten Banditen überfallen werden. Man sollte auch besser, selbst bei der ständigen, schweißtreibenden Hitze, die Fenster schließen, um zu vermeiden, daß durch die massiven Fenstergitter ein Spieß hindurch kommt, um eines der Gepäckstücke hinauszulangen. Daß man dabei eventuell auch körperlich zu Schaden kommen könnte, scheint niemanden aufzuregen. In Indien hat man eine andere Einstellung zum menschlichen Leben! Der Zusammenbruch von Recht und Ordnung in ganzen Provinzen und die allgemeine Unsicherheit sind Aspekte des indischen Lebens, die von Jahr zu Jahr schlimmer werden. Schmutz und menschliches Elend in kaum erträglicher Konzentration und die Hitze, die selbst nachts herrscht, dies alles trägt dazu bei, daß die Sehnsucht nach den Eisriesen des Himalaya am nördlichen Horizont immer größer wird. Eine Eisenbahnfahrt in Indien kann auch ein inhärenter Teil einer Himalaya Expedition sein: Sie unterstützt die geistige Akklimatisierung! Wer Indien überlebt hat, ist geistig gut für den Himalaya ausgerüstet. Es kann einen nichts mehr erschüttern! Aus dieser Sicht - und nicht nur aus Sparsamkeitsgründen - ist eine Indiendurchquerung auf dem Landwege sehr zu empfehlen.
Die Schmalspur-Eisenbahn (600 mm Spurbreite) von
Siliguri nach Darjeeling in Bengalen: im Jahr 2000
Photos: Copyright: Klaus Dierks