STATT EINER EINLEITUNG - FLUCHT NACH TIBET
Klaus Dierks
© Dr. Klaus Dierks 1982-2004
Der Schneeregen peitscht in waagerechten Schnüren in mein Gesicht. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde. Die Wolken hängen so tief, daß ich nur die untersten Berghänge hinter den schnell dahinziehenden Schneeschleiern sehen kann. Die himmelstürmenden Eisriesen des Himalaya um mich herum sind seit Tagen unsichtbar und geben mir keine Orientierungshilfe. Völlig ausgehungert, seit drei Tagen ohne Nahrung, bin ich alleine. Ich habe kein Geld und keine Papiere mehr. Ich bin nicht nur den tödlichen Elementen des Hoch-Himalaya, sondern auch den Menschen ausgeliefert, vor denen ich zu Tode erschöpft und am Ende meiner Kräfte verzweifelt flüchte.
Ich bin voller Furcht und bekomme keine Luft mehr. Ich muß inzwischen wieder auf 5 000 Meter Höhe gestiegen sein. Ich weiß nicht, in welche Richtung ich gehen soll: lieber hinauf oder ins Tal hinunter? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Meine Situation scheint aussichtslos. Ich weiß nur, daß ich ohne die Hilfe anderer Menschen verloren bin. Einen weiteren Tag in dieser Schneehölle überlebe ich nicht.
Nur den Soldaten mit den unbarmherzigen Augen und den chinesischen Ballonmützen möchte ich um nichts in der Welt wiederbegegnen. Dann soll lieber dieses namenlose Himalayatal irgendwo im nördlichen Sikkim mein persönlicher Endpunkt sein.
So irre ich umher und habe nicht einmal mehr die Kraft, mich zu fragen, was mich in diese wahnsinnige Situation gebracht hat. Vor einigen Wochen hatte alles so wunderbar begonnen. In der nordindischen Stadt Darjeeling erlebte ich mitten im Monsun des Jahres 1959 einige schöne Tage, und ich hatte zum ersten Mal einen überwältigenden Blick auf die im Norden liegende Eiskette des Kangchendzönga, des dritthöchsten Berges der Welt. Ich sah den Himalaya überhaupt zum ersten Mal. Ein Lebenstraum ging in Erfüllung. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte nach dem zweiten Weltkrieg als einer der ersten wieder den abenteuerlichen Landweg nach Indien zurückgelegt. Ich hatte in den letzten Monaten genug erlebt.
Der Author im Jahre 1959 in Gangtok/Sikkim, nach der Zurückkehr aus TibetIn Dogûbayazit, an der türkisch-iranischen Grenze, hatte ich einige Wochen in einem unsäglich schmutzigen und überfüllten Gefängnis zugebracht, weil ich versucht hatte, ohne Genehmigung den Ararat zu besteigen. In Teheran wurde mir ein großer Teil meiner spärlichen Reisekasse geraubt. In der Wüste Lut in Südostpersien wäre ich fast verdurstet, nachdem ich gerade einen schweren Typhusanfall überlebt hatte. In Afghanistan half mir eine Räuberbande, mich quer durch den Hindukusch zu schlagen. Mich konnte nichts mehr erschüttern.
Darjeeling im Jahre 2000Ich fühlte mich allem gewachsen, auch dem Himalaya. Ich hatte so gut wie keine bergsteigerische Erfahrung und nur noch einige hundert Deutsche Mark in der Tasche. Meine Ausrüstung war als lächerlich zu bezeichnen. Ich trug einen uralten, verschlissenen Vorkriegsrucksack, den meine Berliner Großer mir geborgt hatte. Ich hatte feste Wanderschuhe, die aber kaum für Hochtouren im Himalaya gedacht waren. Mein Schlafsack war zwar gut für die Wüste Lut, aber total ungeeignet für den Himalaya. Ich besass ein zwanzig Meter langes Hanfseil und dachte, daß dieses genug Ausrüstung für die höchsten Berge der Welt sei. Kompass, Höhenmesser und genaue Landkarten hatte ich nicht. Ich wusste nichts von den Gefahren der Monsunzeit. Davon stand nichts in den Büchern, die ich über den Himalaya gelesen hatte. Ich konnte nicht einsehen, warum ich nicht die Grenze von Indien in das halbautonome Fürstentum Sikkim überqueren sollte, um einen etwas näheren Blick auf den Kangchendzönga zu werfen, dessen gewaltige Gletscher so verlockend nach Darjeeling herüber winkten. Den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest, wollte ich natürlich auch sehen. Ich dachte, ich müßte nur hoch genug klettern, dann würde ich IHN schon irgendwann zu Gesicht bekommen.
Der Chomo Lungma (Mount Everest) vom tibetischen Basislager aus in Rongbuk, 1997In Darjeeling traf ich einen Veteranen der britischen Everest- Expeditionen der zwanziger und dreißiger Jahre, den legendären Verbindungsmann zu den Tibetern und Sherpa, Karma Paul. Er fertigte mir eine grobe Skizze zu einem Aussichtsberg in der Singalilakette in Sikkim an, vom dem aus ich den Mount Everest würde sehen können. Er empfahl mir auch einige gute Sherpa, die mich auf dieser Wanderung begleiten sollten. Leider hatte ich kein Geld, sie zu bezahlen. Er gab mir außerdem noch einige primitive Ausrüstungsstücke, die vermutlich schon die britischen Vorkriegsexpeditionen zum Everest mitgemacht hatten - so verschlissen sahen sie aus.
Tenzing Norgay, dem Erstbesteiger des Mount Everest und Leiter des Instituts für Bergsteigen in Darjeeling, erzählte ich lieber nichts von meinen Plänen. Die indische Polizei hatte mir gerade verboten, die Grenzen nach Sikkim und Nepal zu überqueren. Ich hatte nur ein Expeditionspermit bis zum Peak Sandakphu. Dieser etwa 4 000 Meter hohe Berg lag, rund zwei Fußmarschtage nordwestlich von Darjeeling, genau auf meiner geplanten Route. Hätte ich damals lieber auf die Polizei gehört, so wären mir einige leidvolle Abenteuer erspart geblieben.
Leider war die Schönwetterphase schnell vorbei. Die blaugrauen Monsunwolken, die den Aufstieg zum Peak Sandakphu zu einem unerfreulich nassen Fußmarsch machten, ließen für die Zukunft nicht allzu viel Gutes erwarten.
Aufstieg zur Singalila-Kette im Jahre 1959Von ganz anderen Wolken, die sich am nördlichen Horizont, dort, wo das chinesisch beherrschte Tibet liegt, zusammenbrauten, ahnte ich nichts. Mir waren zwar die vielen tibetischen Flüchtlinge in den Bazargassen von Darjeeling und Kalimpong aufgefallen, und ich hatte auch gehört, daß nur wenige Wochen zuvor der Dalai Lama, das weltliche und geistliche Oberhaupt des alten Tibet, unter abenteuerlichen Umständen nach Indien geflüchtet war, und daß die unterdrückten Tibeter gegen ihre Beijinger Zwingherren in den Aufstand getreten waren, aber das alles hatte mich nicht sehr berührt. Ich wollte ja gar nicht nach Tibet. Ich wollte nur in Sikkim einen Aussichtsberg besteigen, um den Mount Everest zu sehen. Nichts weiter! Von dem ganzen Ausmaß der Katastrophe, die sich im Jahre 1959 auf dem Dach der Welt anbahnte und auch bald nach Sikkim und Indien übergreifen sollte, ahnte ich nichts.
Die ersten Tage verliefen noch ohne großer Probleme. Ich traf auf den Fußpfaden, die vom Sandakphu aus auf der Singalila Gebirgskette immer mehr oder weniger auf der Grenze zwischen Sikkim und Nepal nach Norden führen, viele Nepalis und Sikkemesen. Hier traf ich auch zum ersten Mal auf Mitglieder des Sherpavolkes, das südlich vom Mount Everest im Khumbu lebt. Die Sherpa benutzten diese Fußpfade als Verbindungsroute zwischen Darjeeling und dem Khumbu. Ich konnte mich bei ihnen für billigstes Geld verpflegen. Ich lebte von dem, wovon die Sherpa und Sikkemesen leben, nämlich Tsampa und Buttertee. Außerdem hatte ich noch einen stolzen Notvorrat von zwei Schachteln Schweizer Käseecken dabei.
Die sehr rauhen und oft steilen Wege führten durch dichte Urwälder, in denen gerade noch der Rhododendron blühte. Das Wetter blieb nass und wechselhaft, und von den Eisbergen des Hoch-Himalaya sah ich herzlich wenig. Je weiter ich auf der großer Wasserscheide, die direkt zum Kabru und Kangchendzönga führt, nach Norden kam, um so weniger Menschen traf ich. Die Pfade ins Sherpaland waren längst nach Nordwesten abgedreht, und hier oben gab es auch keine menschlichen Siedlungen mehr. Aber ich rechnete damit, auf irgendwelche Yakhirten und vielleicht auf Handelskarawanen aus Tibet zu stoßen. Wegen des ständig schlechten Wetters mußte ich schon seit einiger Zeit nicht mehr genau, wo ich mich eigentlich befand. Außer der Handskizze von Karma Paul besass ich ja leider keine weiteren Orientierungshilfen. Aber solange noch irgendwelche, nach Norden laufende, Fußpfade erkennbar waren, war ich zufrieden. Irgendwann mußte ich auf den Beginn des Yalunggletschers stoßen. Da wollte ich dann besseres Wetter abwarten, bis ich den Mount Everest zu Gesicht bekommen würde.
Bakhim in West-Sikkim: Blick nach Süden in die Singalila-Kette im Jahre 2000Vom fast 5 000 m hohen Dzongri-La: Blick nach Süden auf die
Singalila-Kette (Grenze zwischen Sikkim und Nepal): in dieser Gegend hielt ich mich 1959
auf
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Doch das Wetter wurde immer schlechter, je höher ich in die Hochtäler aufstieg. Langsam verwandelte sich der ewige Monsunregen in Schnee. Ich fing erst an, mir Gedanken zu machen, als ich schon zwei Tage lang keine Menschenseele mehr getroffen hatte. Meine Notrationen waren aufgezehrt, und langsam wurde die Lage kritisch. Als dann das Schneetreiben so dicht wurde, daß ich in dieser menschenleeren Hochgebirgshölle nicht mehr die Hand vor Augen sehen konnte, begann mir zu dämmern, daß ich mich in ernsten Schwierigkeiten befand.
Ich beschloss, auf Kabru, Kangchendzönga und Everest zu pfeifen und von der Singalilakette nach Osten in ein wegloses Tal zum Rangitfluß abzusteigen. Diesen Fluss hatte mir Karma Paul auf der Skizze eingezeichnet. Der Rangitfluß fließt in die Tista, und dort unten mußte es wieder menschliche Siedlungen geben. Das Wetter blieb schlecht, und man konnte in dem Nebel und Schneetreiben immer nur einige Meter weit sehen. Es ging steil bergab, und der Schnee verwandelte sich wieder in alles aufweichenden Dauerregen. Meine Uralt-Ausrüstung war natürlich diesen schon seit Tagen andauernden Schnee- und Regenattacken nicht gewachsen. Ich hatte in den letzten Nächten immer einigermaßen trocken unter irgendwelchen Felsüberhängen oder in Höhlen geschlafen. Meine Sachen waren jedoch nicht mehr trocken zu bekommen. Je tiefer ich in die triefenden Urwälder hinein tauchte, desto größer wurde die Hoffnung, auf die ersten bewohnten Hütten zu stoßen.
Die Bergurwälder Sikkims: Blick von Süden in das Rangit-Tal mit der Tashiding Gompa im HintergrundMeine Erleichterung war groß, als ich am Nachmittag des Abstiegstages unter mir im Tal tatsächlich menschliche Stimmen hörte. Ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als so schnell wie möglich abzusteigen und mich durch Zuruf bemerkbar zu machen. Ich traf auf eine kleine Gruppe von merkwürdig aussehenden Männern mit harten Augen, die mich ungläubig musterten. Sie trugen eine Art Uniform mit Ballonmützen ohne Kennzeichen. Erst glaubte ich - und ich war sehr froh darüber - Soldaten der kleinen Armee des Maharadscha von Sikkim getroffen zu haben. Aber meine anfängliche Freude verwandelte sich nach den ersten Worten in sprachloses Entsetzen. Der Führer der Gruppe sprach etwas englisch, und mir wurde schnell klar, daß ich einer chinesischen Armeepatrouille in die Arme gelaufen war.
Ob sich die Soldaten nur verirrt oder ob sie sich zielbewusst hier mitten in Sikkim aufhielten war zunächst nicht deutlich. Ich wurde sofort in eine Art Verhör genommen. Leider stieß meine "Geschichte" auf wenig Glauben. Für kommunistisch geschulte Chinesen klang sie ganz sicher nicht sehr wahrscheinlich. Es war für sie viel logischer, in mir einen "imperialistischen Spion" zu sehen, der die "friedlichen" Pläne, die die Volksrepublik China offensichtlich in Sikkim verfolgte, stören wollte.
Ich konnte noch von Glück sagen, daß ich nicht an Ort und Stelle erschossen wurde. Man bedeutete mir nicht sehr freundlich, daß ich die "Herren" nach Tibet zu begleiten hätte, wo man meine Geschichte dann überprüfen würde. Ich wurde auch sogleich peinlichst durchsucht und mußte Pass, all mein restliches Geld und alle schriftlichen Unterlagen, wie mein Tagebuch, Karmas Skizze und meine Landkarte vom indischen Subkontinent abliefern. Alles andere Gepäck, vor allem auch meine bereits belichteten, für mich unersetzlichen Filme der vergangenen drei Monate wurden mir belassen. Ich bedauerte nur, daß ich es wohl kaum wagen konnte, meine Kamera aus dem Rucksack zu holen, um die unwahrscheinliche Situation, in die ich geraten war, im Bild festzuhalten. Die Chinesen hatten Riesenrucksäcke und Maschinenpistolen einer mir unbekannten Marke sowie auch ein ziemlich groß Funkgerät zu schleppen. Sie wollten sich natürlich nicht noch mit meiner Ausrüstung belasten. Sie gingen von der Voraussetzung aus, daß ihnen logischerweise sowieso alles in die Hände fallen würde. Daß ich meine Ausrüstung behalten konnte, sollte mir später das Leben retten.
Wenigstens hatten die Chinesen aber genügend Tsampa, das Hauptnahrungsmittel bei Reisen im Himalaya, und Tee dabei, und sie ließen mich an ihren Mahlzeiten teilnehmen. Ich mußte wohl auch einen sehr verhungerten Eindruck gemacht haben. Das Tsampa, geröstetes Gerstenmehl, wird mit dem salzigen tibetischen Buttertee zu einem unappetitlichen Brei verrührt, zu kleinen Kugeln geformt und mit der Hand gegessen. Dabei wird ständig neuer Buttertee auf das Tsampa gegossen. Nie wieder in meinem Leben hat mir etwas besser geschmeckt! Seither liebe ich Tsampa und Buttertee.
Blick in das Tista-Tal nach Norden: in Richtung Mangan und Chungthang: im Jahre 2000Wir übernachteten in einer einigermaßen trockenen Höhle und zogen am Morgen durch den unaufhörlichen Regen weiter. Die Richtung konnte ich nur ahnen, da die Chinesen mich natürlich nicht über ihre Pläne informierten. Es ging aber offensichtlich nach Nordosten zur Tista. Größer Siedlungen, wie etwa Chungthang, wo sich die beiden groß Ströme Sikkims, Lachen Chu und Lachung Chu, zur wildschäumenden Tista vereinigen, vermieden wir. Wir trafen in den nächsten beiden Tagen einzelne Leptschas, die kleinwüchsigen Ureinwohner Sikkims, die uns aber nicht weiter beachteten. Ich hätte mich sowieso nicht mit ihnen verständigen können und mußte wohl oder übel mit den Chinesen auf den haarsträubenden, hier in nur etwa 3 000 Meter Höhe auch wieder von Blutegeln wimmelnden, glitschigen Fußpfaden mitlaufen. Irgendwann drehten wir in ein Tal ein, das nach Norden führte. Ich nahm an, daß es das Tal des Lachen Chu sei. Von der größer Siedlung Lachen, wo es eine berühmte Schwarzhut-Gompa, einen sikkemesischen Polizeiposten und einen Dakbungalow geben sollte, habe ich nichts gesehen.
Lachen im Jahre 2000Tagelang ging der Marsch durch den triefenden Urwald mit gewaltigen Himalayazedern weiter. Wir wateten geradezu durch Wasser und Schlamm und quälten uns durch zahllose feuchte Schluchten, in denen die Wasserfälle rechts und links von den himmelhohen Bergwänden herunterstürzten. Jetzt, in der Monsunzeit, blühte der Rhododendron in allen Rot-Tönen, und Riesenschmetterlinge umgaukelten uns. Die meisten Fußgängerbrücken waren längst von den reißenden Wassermassen weggerissen worden. So war jede Fluss ein lebensgefährliches und sehr nasses Manöver. Zum Glück war es hier unten wenigstens warm. Wir zogen durch eine unbeschreibliche Landschaft von groß Wildheit. Ich konnte mich jedoch nicht so recht an ihr freuen, da mein Status als Gefangener der Chinesen kaum zu Freude Anlass gab.
Landschaft zwischen Lachung und Yumthang: Berg-Rhododendron: im
Jahre 2000
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Es ging jetzt immer mehr bergauf. Wir trafen keine Leptschas mehr. Wer sollte auch bei diesen sintflutartigen Regenfällen unterwegs sein? In einer einsamen, traurigen, vereisten Hütte irgendwo zwischen Yakthang und Thanggu kauften die Chinesen neuen Tsampa ein. Das war für mich ein Hinweis darauf, daß wir jetzt in die unbesiedelten Gegenden an der tibetischen Grenze ziehen würden. Ich wusste natürlich immer noch nicht genau, wo wir uns befanden. Meine Reisebegleiter sagten es mir auch nicht. Die Himmelsrichtung konnte ich jedoch trotz der ständigen schweren Bewölkung schätzen, und aufgrund meines gut ausgeprägten Orientierungssinnes, der mich noch nie im Stich gelassen hatte, besass ich eine ungefähre Idee von unserem Standort. Orientierungshilfen, wie der Blick auf die Kangchendzöngakette direkt im Westen oder die Tschörten Nyima Berge im Nordwesten, hatte ich nicht, weil der Himmel einfach kein Einsehen haben und aufklären wollte.
Irgendwo in der Gegend von Thanggu müssen wir wieder die 4 000 Meter Grenze überquert haben. Von hier aus ging es in die immer vegetationsloser werdenden Hochtäler des Himalaya hinein. Hier vollzog sich der Übergang von der Regenwaldhölle Sikkims zur klaren Bergwelt Tibets.
Blick auf Thanggu im Jahre 2000
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Thanggu-Gompa im Jahre 2000
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Langsam wurde jetzt auch das Wetter besser. Manchmal sah man schon einige Schneefelder und Gletscher hinter den schnell dahinziehenden Wolken. Ich war bereits eine ganze Woche mit den Chinesen unterwegs.
Chomo Jummo 6 782 m an der Grenze zwischen Sikkim und Tibet, 1959Sie waren nicht unfreundlich zu mir, gaben mir von ihren spärlichen Kostvorräten ab und ließen mich nie aus den Augen. Selbst, wenn ich "hinter die Büsche mußte", ging immer einer mit. Ich hatte in den vergangenen Tagen genügend Zeit zu allerhand unerfreulichen Überlegungen gehabt, und ich kam zu dem Entschluss, mich lieber wieder dem Risiko des Alleinseins auszusetzen und mein Heil in der Flucht zu suchen. Das Schicksal, das mich in Tibet erwarten würde, erschien mir zu undurchsichtig und zu unkalkulierbar.
In der letzten Nacht vor meiner geplanten Flucht schliefen wir in einer verlassenen Yakweidehütte. Wir hatten in den letzten beiden Tagen bereits die ersten Yaks, die Grunzochsen des Hoch-Himalaya mit ihren langen, zotteligen Haaren und ihrer gedrungenen Gestalt, zu Gesicht bekommen. Wir näherten uns jetzt wirklich der tibetischen Welt, und es wurde höchste Zeit, daß ich mich von meinen "chinesischen Freunden" verabschiedete. So viel hatte ich von meinen schweigsamen Reisegefährten mitbekommen: Erst in Tibet angekommen, hatte ich nicht allzu viel Gutes zu erwarten. Meine Phantasie war schon immer außerordentlich gut ausgeprägt gewesen ... Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was mich in einem chinesischen Gefängnis erwarten würde, und von der berüchtigten Gehirnwäsche, die in jenem Land gepflegt wurde, hatte ich auch schon einiges gehört.
Mein Vorhaben wurde am nächsten Tag durch das wieder schlechter werdende Wetter begünstigt. Schneebeladene graue Wolken zogen von Süden das Lachen Chu Tal hoch und verhüllten die eisgepanzerten Sechstausender der Lachsi- und Kangchenchhoberge, die ich tags zuvor zum ersten Mal, zumindest teilweise, gesehen hatte.
Die Luft wurde hier, in fast 5 000 Meter Höhe, schon sehr dünn. Ich merkte es daran, daß ich stark ins Keuchen kam und mich alle paar hundert Meter ausruhen mußte. In einer solchen Höhe hatte ich mich bis dahin noch nie befunden. Die Voraussetzungen für eine Flucht konnten unter diesen Umständen gar nicht schlechter sein. Der einzige Trost war, daß die Chinesen genauso ins Keuchen kamen wie ich. Ich hatte inzwischen festgestellt, daß sie alle Flachlandbewohner aus der Gegend von Schanghai waren. Als Besatzungssoldaten in dem durchschnittlich über 4 000 Meter hoch gelegenen Tibet waren sie jedoch ganz sicher besser höhenangepasst als ich. Glücklicherweise wusste ich damals aber überhaupt noch nichts über die lebensnotwendige Akklimatisierung an große Höhen. Ich wusste auch so gut wie nichts von der berüchtigten Höhenkrankheit. So wurden meine Gedanken wenigstens nicht auch noch dadurch beunruhigt. Sonst hätte ich meine Fluchtabsichten vermutlich nicht so seelenruhig in die Tat umgesetzt.
Die letzte gemeinsame Unterkunft war - wie schon erwähnt - eine schäbige, aus rohen Natursteinen gebaute Hütte auf einer verschneiten Yakweide, nördlich von Thanggu. Nach Dunkelwerden und nach unserem spärlichen Tsampa-Abendessen bauten die Chinesen ihr Funkgerät auf, um den obligaten abendlichen Spruch nach Lhasa - so vermutete ich - zu senden. Danach kroch alles in die Schlafsäcke.
Am nächsten Morgen tobte ein heftiger Schneesturm um die Hütte. Normalerweise ist es im Himalaya bei solchem Wetter ratsam, in seiner Unterkunft zu bleiben und besseres Wetter abzuwarten. Die über 5 000 Meter hohen Grenzpässe nach Tibet konnten höchstens noch ein bis zwei Tagesreisen entfernt sein, und eine Himalaya-Passüberschreitung im Schneesturm ist alles andere als ein harmloses Abenteuer. Trotzdem schienen es die Chinesen, aus welchen Gründen auch immer, außerordentlich eilig zu haben, denn wir packten schon sehr früh auf und zogen in den heulenden Schneesturm hinaus. Ich hatte das Gefühl, daß diese unbegreifliche Eile irgendwie mit dem Funkgespräch des vorigen Abend zusammenhing.
Mit meiner armseligen Ausrüstung war ich natürlich schlecht dran, aber es war mir klar, daß ich von den Chinesen keine Rücksicht zu erwarten hatte. Der Wind hatte im Laufe des Morgens gedreht und blies uns die nadelscharfen, waagerecht dahinschießenden Schnee- und Eiskristalle direkt ins Gesicht. Monoton, ohne zu denken und zu Tode erschöpft, quälten wir uns Stunden und Stunden durch den immer tiefer werdenden Schnee. Die Chinesen hatten ganz sicher keine anderen Gedanken als ich: Jeder dachte nur an Geborgenheit und Wärme und hoffte auf das Ende dieses wahnwitzigen Schneesturms. Vermutlich verschwendeten sie nicht einen einzigen Gedanken daran, daß ich mich eventuell mit Fluchtgedanken tragen könnte. Für mich schien diese Flucht jedoch die einzige Chance.
Ich blieb absichtlich etwas zurück, bis ich in dem Schneegestöber schließlich meinen Vordermann nicht mehr sehen konnte. Mein Hintermann, der Soldat mit dem schweren Funkgerät, war schon vor einiger Zeit zurückgeblieben. Nun lief ich einfach bergab, seitlich von dem Fußpfad weg, in Richtung eines rauschenden Gletscherbaches, den ich hörte und betete inbrünstig, daß meine Flucht solange unentdeckt bleiben möge, bis der Schnee meine Spuren zugedeckt hätte. Glücklicherweise war dies in wenigen Minuten der Fall. Nach dem kurzen Lauf abwärts hörte ich in dem Heulen und Tosen des Sturmes keinen anderen Laut als mein eigenes erschöpftes Keuchen. Ich kauerte mich hinter einen Felsen und beschloss, erst einmal abzuwarten. Über meine Überlebenschancen machte ich mir keine Illusionen. Schon das zweite Mal innerhalb von knapp zwei Wochen sass ich ohne Verpflegung in dieser Schneewildnis. Ich konnte nur hoffen, daß der Schneesturm irgendwann aufhören würde, und daß sich die chinesischen Soldaten inzwischen möglichst weit entfernt hätten. Diesen Gefallen tat mir der Schneesturm jedoch nicht, sondern nahm meinem erschöpften Körper auch noch die letzte Kraft. Das einzige Gute daran war, daß die Chinesen eine eventuelle Suchaktion inzwischen längst aufgegeben haben mußten. In diesem wahnsinnigen Gebirge könnte einige hundert Meter entfernt eine ganze Armee vorbeimarschieren, und auch ohne Schneesturm würde man es kaum merken. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie mich finden würden, war äußerst gering.
Ich wusste immer noch nicht genau, wo ich mich nun befand, aber ich hielt es für das beste, mich erst einmal talabwärts von der tibetischen Grenze hinwegzubegeben und in Richtung Thanggu laufen. Irgendwann, so hoffte ich, mußten ich doch auf Einheimische, Tibeter oder Leptschas stoßen, die mir dann helfen würden, den Weg zurück ins Leben zu finden.
Zwischen Thanggu und Naku-La im Jahre 1959Es dauerte drei furchtbare Schneesturmtage, ehe ich völlig ausgehungert auf tibetische Nomaden traf. Da diese rauhen Burschen mit ihren verwitterten Gesichtern und ihrer malerischen Kleidung kein Englisch sprachen, war die Verständigung recht kompliziert. Offensichtlich hatten sie jedoch mit den Chinesen genauso wenig im Sinn wie ich. Die Tibeter sahen mehr als abenteuerlich aus, aber die Gastfreundschaft ist ihnen - wie allen Nomaden Zentralasiens - heilig. Sie fütterten mich mit Tsampa und Buttertee und brachten mich schnell wieder auf die Beine. Ich zog einfach mit ihnen, obwohl ich nicht wusste, wohin es ging.
Bei meinen fremdartigen Gastgebern fühlte ich mich völlig sicher. Damals begann mein Interesse an und meine Liebe zu Tibet und seinen freundlichen, gastfreien Menschen aufzuflammen, die unter ihren chinesischen Beherrschern ein so schweres Schicksal durchmachen. Meine tibetischen Freunde nahmen mich ganz selbstverständlich in ihrer Mitte auf. Sie, die selbst in einer gnadenlosen, rauhen Umwelt leben, waren voller Verständnis für mich. Ich war durch die Erlebnisse der letzten Wochen sehr geschwächt und hatte in der dünnen Luft oft Mühe, meinen Rucksack zu tragen. Es war eine große Geste der Menschlichkeit und der Brüderlichkeit, daß sie sich zu ihrem Gepäck auch noch meines aufbürdeten.
Am nächsten Tag trafen wir einige finster aussehende Nomaden mit uralten Vorderladern und über der Brust gekreuzten Patronengurten. Ich machte zum ersten Mal mit den berühmt-berüchtigten Khampa Bekanntschaft, die die Triebfeder des tibetischen Aufstandes gegen die Chinesen waren, und die auch den Fluchtweg des Dalai Lama nach Indien gesichert hatten. Mit den Khampa zusammen konnte mir nicht mehr allzu viel passieren. Ich hatte wegen der fehlenden Verständigungsmöglichkeiten allerdings immer noch keine genaue Ahnung, wo wir uns eigentlich befanden. Wir hatten inzwischen einen weit über 5 000 Meter hohen Pass überquert, aber es war mir nicht klar, ob wir uns immer noch in Sikkim oder aber bereits in Tibet befanden.
Auf der Passhöhe schrieen die Tibeter das uralte tibetische Mantra in den schneidenden Sturm: "Cha gyal lho - Die Götter haben gesiegt". Von diesem Pass sah ich weit im Westen einige riesige Schneegipfel, von denen einer wie der höchste Berg der Erde, der Mount Everest, aussah. Ich weiß jedoch heute noch nicht, ob ich damals tatsächlich den dritten Pol der Erde, den die Tibeter "Chomo Lungma - Die Göttin Mutter der Erde" nennen, oder den nur etwas niedrigeren, östlich vom Everest gelegenen Makalu gesehen hatte. Das Wetter war seit zwei Tagen besser, und ich sah die gewaltigen Sechstausender Chomo Jummo, Chombu und Kangchenchho südlich von uns. Ich hatte also wirklich, wenn auch keineswegs beabsichtigt, den ganzen Himalaya durchquert. Der Pass selbst war nur durch einige Steinhaufen markiert. Wenn er wirklich die Grenze zu Tibet darstellte, dann hatten die Khampa ganz sicher keinen große Respekt vor den Chinesen. Nördlich des Passes, von dem ich später vermutete, daß es sich um den Kongra La handelte, tat sich vor mir eine kahle Bergeswüste auf, braune Gebirgsketten von erhabener, unirdischer Einsamkeit, weite, von gewaltigen Bergen eingerahmte Ebenen, die bis in die Unendlichkeit zu reichen schienen.
Der Aufstieg zum Naku-La im Jahre 2000, Schauplatz meines
Abenteuers von 1959
Photo: Copyright: Klaus Dierks
So viel hatte ich in den letzten Tagen bereits gelernt, daß ich verstehen konnte, daß wir eine "Gompa", ein Kloster, besuchen würden, wo ich mich erholen sollte. Danach würden mich die Khampa in die Sicherheit nach Sikkim zurückleiten.
Auf der nördlichen Seite des Passes trafen wir einige Tibeter. Ein alter Mann drehte unablässig seine Gebetsmühle und murmelte dazu die uralte Formel des tibetischen Buddhismus: "Om Mani Padme Hum". Er warf mir einen kurzen, uninteressierten Blick zu, um dann mit seiner Tätigkeit fortzufahren. Die Gebetsmühle war das einzige Rad, das es bis zum Eintreffen der Truppen von Mao Tse Tung in Tibet gegeben hatte. Es gab im alten Tibet eine Prophezeiung, die besagte, daß der Friede das Land verlassen würde, sobald die Räder hineinkämen. Mit der Zerschlagung des buddhistischen Kirchenstaates auf dem Dach der Welt durch die Chinesen ist diese Prophezeiung in Erfüllung gegangen.
Naku-La von Norden im Jahre 1959Von der chinesischen Herrschaft in Tibet merkte ich damals jedoch nichts mehr. Wir zogen unbehelligt nach Norden, wobei wir einige wenige Nomaden mit ihren niedrigen Zelten und große Yakherden trafen. Eine Ansammlung von flachen Steinhäusern, über denen im eisigen Wind viele Gebetsfahnen flatterten, wurde mir als eine Gompa, ein tibetisches Kloster, vorgestellt, dessen Namen ich niemals erfahren habe. Die Häuser schienen wie ausgestorben, und die Stille wirkte nicht gerade anheimelnd. Aus dem offenen Fenster einer der Hütten drang Rauch. Meine tibetischen Begleiter riefen einige Worte. Ein bezopfter, bartloser Männerkopf erschien, nieste erst einmal kräftig und wendete sich uns dann Zunge-herausstreckend zu. Er musterte mich dabei so gleichgültig, als ob jeden Tag ein Europäer seine Aufwartung in diesem weltfernen tibetischen Nest machte. Das Zunge-Herausstrecken ist die Form größter tibetischer Höflichkeit und zeigt an, daß der Begrüßende keine von Dämonen geschwärzte Zunge hat. Das also war meine Begrüßung in Tibet.
Khampa aus der Landschaft Kham in Ost-Tibet auf Pilgerreise zum heiligen Berg Khailash in West-Tibet, 1998Ich erlebte die einzigartige Gastfreundschaft in einem tibetischen Kloster, das während der chinesischen Kulturrevolution höchstwahrscheinlich das Schicksal von Tausenden von Klöstern in Tibet geteilt hat und zerstört wurde. Der Abt des Klosters, hier Lama genannt, versprach mir, dafür zu sorgen, daß ich mich später einer tibetischen Karawane nach Sikkim anschließen könnte.
In seiner Jugend hatte der Lama in Indien die buddhistischen Texte in den Ursprachen Sanskrit und Pali studiert, und durch seinen Aufenthalt in der ehemaligen britischen Kolonie konnte er sich mit mir auf englisch verständigen. Bei ungezählten Tassen Buttertee entfaltete sich mir die ganze Tragödie auf dem Dach der Welt, die zu jener Zeit gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte. 1951 war die Rote Armee Mao Tse Tungs in Tibet einmarschiert und hatte die jahrhundertealte Selbstständigkeit dieses Kirchenstaates beendet. In den folgenden Jahren wurde der politische und wirtschaftliche Terror von der Regierung in Beijing verschärft und gipfelte in der dramatischen Flucht des Dalai Lama nach Indien im März 1959. In diesem Jahr war von der religiösen Freiheit und politischenAutonomie, die in den Jahren nach 1951 von Beijing versprochen worden waren, keine Rede mehr. Unter der Führung der Khampa, der kriegerischen Bevölkerung der tibetischen Ostprovinz Kham, stand das gequälte Volk gegen seine Unterdrücker auf.
Alter Mann aus der tibetischen Oberschicht im Jahre 1959Der Lama schilderte die Situation in weisen, abgeklärten Worten. Damals, als ich, vor dem Ende des kalten Krieges, als einer der letzten Europäer die tibetische Grenze überquerte, tobte seit einigen Monaten bereits in weiten Teilen des Landes der Aufstand. Die Chinesen hatten nur noch Lhasa und einige andere größter Städte in Tibet fest in ihrer Hand. In ihrer Jahrtausende alten Geschichte waren die Tibeter schon immer ein gefürchtetes Kriegervolk gewesen. Erst durch die Festigung der buddhistischen Religion im 7. Jahrhundert wurden sie friedfertiger. Aber der kriegerische Kern lebte unter der sanften buddhistischen Schale fort und machte den Chinesen viele Jahre lang das Leben sehr schwer.
Interessanterweise wandte sich der Lama nicht dagegen, daß die Chinesen "westlichen" Fortschritt wie Schulen und Krankenhäuser ins Land brachten. Es war ihm klar, daß Tibet im Grunde ein rückständiges, feudalistisch regiertes Land war, das von Großgrundbesitzern und den Kirchenführern der lamaistischen Klöster recht autokratisch regiert wurde. Moderne Schulen und Krankenhäuser gab es vor dem Einmarsch der Chinesen nicht. Es gab aber auch keinen Hunger und keine Zwangsarbeit. Die Chinesen nahmen keine Rücksicht auf die Mentalität und die tiefe Frömmigkeit des tibetischen Volkes, das einfach nicht verstehen wollte, warum es jetzt gezwungen wurde, Straßen und Flugplätze zu bauen, wo es doch vorher auch ohne diese Dinge sehr gut gegangen war. Die Chinesen versuchten, in diesem Lande, das noch tief im Mittelalter steckte, in knapp zehn Jahren einen modernen Sozialismus aufzubauen - oder das, was sie darunter verstanden. Sie mußten scheitern, gerade auch, weil sie versuchten, die Religion zu unterdrücken.
Ich hörte schon damals, daß Hunderte von Klöstern als "Hort der Reaktion" zerstört und Zehntausende von tibetischen Mönchen entweder getötet oder zu Zwangsarbeit verschleppt worden waren. Diese Schreckensnachrichten wurden von Tausenden von tibetischen Flüchtlingen nach Indien und Nepal getragen. Im Westen wurden sie lange nicht geglaubt. Erst als viele Jahre später der Khampa-Aufstand zerschlagen war, und die Chinesen die hermetisch abgeschlossene Grenze 1980 wieder öffneten, wurde das Ausmaß der Katastrophe klar, die Tibet getroffen hatte. 1980 war es für eine verblüffte Welt eine Offenbarung, daß hier ein kleines, waffenloses Volk mit rein geistigen Mitteln einer der mächtigsten Terrormaschinen der Weltgeschichte getrotzt und seine schon totgeglaubte Religion und Tradition erhalten hatte.
Ich erlebte damals, vielleicht als letzter westlicher Besucher in diesem vergessenen Winkel des Himalaya, ein Stück altes Tibet, das für immer vergangen ist. Nach einigen Wochen der körperlichen und seelischen Erholung hieß es Abschied nehmen. Es war inzwischen Ende September geworden, und das kolossale Schauspiel des Wetterleuchtens über dem südlichen Horizont war nicht mehr jede Nacht zu sehen. Die Monsunzeit ging zu Ende, und ich brach mit einer tibetischen Karawane nach Süden auf.
Wir zogen diesmal über einen anderen Pass, der weiter im Westen gelegen war und von dem ich in weiter Ferne wieder die Chomo Lungma zu erkennen glaubte. Später, nach gründlichem Kartenstudium, nahm ich an, daß der Pass der Tschörten Nyima La oder irgendein namenloser Pass zwischen Tschörten Nyima und Kongra La gewesen sein könnte.
Bam Tso mit Chomolhari an der Grenze zwischen Tibet und Bhutan, 1997Nach einem letzten Blick in das "verbotene Tibet", das mir damals, nachdem die Garden des Mao Tse Tung die Macht übernommen hatten und die Rote Armee des mächtigen chinesischen Reiches zur permanenten Unterdrückung des tibetischen Volkes angetreten war, verbotener denn je schien, setzten wir unseren Weg fort. Den weltberühmten Potala, den uralten Palast des Dalai Lama in Lhasa, würde ich nun wohl niemals zu sehen bekommen. Ich hatte in Tibet gehört, daß chinesische Artillerie im März und April des Jahres große Teile von Lhasa und auch den Sommerpalast des Dalai Lama, Norbu Lingka, beschossen hatten.
Potala Palast in Lhasa im Jahre 1997Nach Süden stiegen wir durch breite, mit Gletscherschutt gefüllte, kahle Täler ab. Wir trafen hier ab und zu noch tibetische Nomaden, die mit ihren Yaks durch diese weite Landschaft zogen. Zwischendurch konnte ich meinen Rucksack auf eines dieser rauhen, starken, urweltlich wirkenden Tiere laden, die auf den Steilhängen mit kaum glaublicher Trittsicherheit über grobes, ständig rollendes Gestein unbeirrt dahinzogen. Hier lernte auch ich den Umgang mit diesen gewaltigen Tieren des Hoch Himalaya. Ein Yak will als ein selbstständiges Wesen respektiert werden. Wenn er grasen will, dann grast er, und man kann ihn kaum davon abbringen. Man darf einen Yak niemals schlagen oder antreiben, schon gar nicht, wenn man kein Tibeter ist. Nicht-Tibeter liebt der Yak nicht so sehr, und auf unfreundliche Behandlung kann er außerordentlich schnell und böse reagieren und seinen Peiniger in größter Schwierigkeiten bringen. Damals lernte ich die tibetischen Grunzochsen schätzen und respektieren.
Nach zweitägigem Marsch verließen wir die kahlen Bergeswüsten Tibets mit ihren in den Himmel gestochenen klaren Linien und zogen hinunter in die bewaldeten Täler Sikkims. Leider gingen die Yaks nicht mit, und ich mußten meinen Rucksack wieder selbst tragen. Es ging ständig bergab, zunächst durch zahlreiche mit Rhododendron überwucherte Terrassen - eine Märchenlandschaft mit Wiesen voller Alpenblumen und, nach der langen Zeit in Fels und Eis, eine Wohltat fürs Auge. Danach folgten die feuchten Urwälder des Lachen Chu. Der Monsun war vorbei, und die Sonne zauberte herrliche Lichtspiele auf die Wasserfälle, unter denen wir immer wieder hindurch mußten. Ich fühlte mich so frei wie noch nie in meinem Leben. Die Lungen atmeten nach der dünnen Luft Tibets freudig die dichte, würzige Urwaldluft ein. Ab und zu mußten wir noch hochsteigen, um den gewaltigen Urwaldschluchten auszuweichen, die zum Teil völlig unzugänglich waren. Immer mächtiger dröhnte die Lachen Chu, die wir etliche Male auf haarsträubenden Baumbrücken überqueren mußten, und über die ich dann, mein Herz in beide Hände nehmend, hinüberbalanzierte.
Schließlich erreichten wir die erste größere Ortschaft in Sikkim. Meine tibetischen Freunde brachten mich zum Polizeiposten von Lachen und verschwanden grußlos wieder im Urwald. Ein sikkemesischer Polizei-Unteroffizier hörte sich ungläubig meine Geschichte an. Sie war wohl die erste Bestätigung, daß der schon längere Zeit gefürchtete Übergriff der Chinesen auf die an Tibet grenzenden autonomen Fürstentümer Sikkim und Bhutan Wirklichkeit geworden waren. Damals, als der Krieg in Tibet ausgebrochen war, geriet ja die gesamte Himalaya-Region in Aufruhr. Kein Mensch wusste, was los war, es gingen die wildesten Gerüchte um. Da es in den Randgebieten des Himalaya keinerlei moderne Kommunikationsmittel gab, wurden alle diese Nachrichten maßlos aufgebauscht. So hatte der Polizei-Unteroffizier von Lachen keinerlei Möglichkeit, festzustellen, was in den nördlichen Grenzgebieten von Sikkim anging, was die Chinesen dort planten oder bereits unternommen hatten. Meine Aussagen lieferten ein erstes Mosaiksteinchen in einem Gemälde des Schreckens, das erst Jahrzehnte später vollendet wurde.
In Lachen genoss ich endlich wieder die "Segnungen" der Zivilisation. Ich konnte duschen und den Dreck von Monaten abspülen. Ich konnte auf einem Stuhl sitzen. Ich bekam zwar noch kein europäisches Essen, aber immerhin schon einen sehr ordentlichen indischen Curry. Meine tibetische Zeit war zu Ende!
Ein junger Polizist brachte mich in drei Tagen über Tsungtang nach Dikchu. Durch die ungeheuren Monsunregengüsse waren fast alle Brücken weggespült, und der Fußweg war immer wieder durch Erdrutsche versperrt. Wieder mußten wir über halsbrecherische Notbrücken aus Bambus oder Holz balancieren und reißende Gletscherbäche überspringen oder durchwaten.
Die außerordentlich aggressiven Blutegel und Moskitos quälten uns bis aufs Blut, als wir in das Tal der Tista auf nur noch 600 Meter abstiegen. Von dem Fiebernest Dikchu ging es dann auf einer recht basischen Autostraße hoch in die Landeshauptstadt von Sikkim, nach Gangtok. Weitere Tage der Erholung folgten am Hofe des Maharadscha von Sikkim, Tashi Namgyal. Wieder und wieder mußten ich meine "Odyssee" schildern. Ich wurde verwöhnt und bekam provisorische Reisepapiere, um meine Reise in den indischen Grenzort Kalimpong fortsetzen zu können.
Gangtok im Jahre 2000Kalimpong war in den vergangenen Wochen der tibetischen Tragödie das Nachrichtenzentrum für die jüngsten Neuigkeiten aus Tibet geworden. Die tibetischen Flüchtlinge, die hier über die Grenze strömten, brachten unvorstellbare Schreckensgeschichten mit. Sie erzählten von den erbarmungslosen Kämpfen, von der Zerstörung Lhasas und der versuchten Ausrottung der alten Religion Tibets. Die betriebamen Gassen des große tibetischen Bazars von Kalimpong summten geradezu von Spannung und politischen Intrigen. Die Inder hatten Kalimpong inzwischen für alle Ausländer - und vor allem für Zeitungskorrespondenten - gesperrt, vermutlich um den Chinesen entgegenzukommen. Jawaharlal Nehru glaubte damals anscheinend, damit den Eckpfeiler seiner Außenpolitik, die "indisch-chinesische Freundschaft" zu retten. Es sollte ihm jedoch nichts helfen. Mit Kommunisten kann man keinen "Plan machen". Die Chinesen dachten gar nicht daran, Indiens pflaumenweiche Haltung zu honorieren.
Als ich Nehru Anfang November 1959 im Rashtrapati Bhawan in Neu-
Delhi von meinen Erlebnissen berichtete, waren keine große indischen Sympathien gegenüber den Chinesen mehr zu verspüren. Als sich die chinesische Aggression ab 1960 dann auch auf indisches Gebiet fortpflanzte, verwandelte sich die indisch-chinesische Freundschaft in einen zunächst heißen und später eiskalten Krieg, der bis in die achtziger Jahre fortdauern sollte. Dieser Krieg wurde 1959 auch nicht mehr durch die Schaffung einer neuen "inneren Grenze", 30 km südlich der indo-tibetischen Grenze, verhindert. Die neue Grenze durfte zwar nicht mehr von westlichen Ausländern überschritten werden, wurde aber von chinesischen Agenten in beiden Richtungen frei gekreuzt. Kalimpong im Jahre 1959Es war ganz sicher kein Zufall, daß ich im Himalayan Hotel hörte, daß Radio Beijing Kalimpong ein Nest von westlichen Spionen nannte, die unter dem Deckmantel von Bergsteigerei und wissenschaftlichen Forschungen die indisch-chinesische Freundschaft gestört hätten. Ob ich damit gemeint war?! Die indischen Behörden behandelten mich jedenfalls nicht mit allzu große Mitgefühl. Ich war mehr als glücklich, als ich meine Reise Ende Oktober mit neuen Reisepapieren fortsetzen konnte. Das alte Tibet, Böyul - das ist ein Heiligtum umgeben von den Bergen des mächtigen Himalaya -, das ich noch einmal am Rande hatte erleben dürfen, versank nicht nur im geographischen Sinne für immer am nördlichen Horizont. In Darjeeling schloss sich der Kreis. Ich begrüßte Karma Paul mit dem alten tibetischen Gruß, den ich inzwischen gelernt hatte: "Tashi Delek ... Glück und Segen". Karma Paul meinte, ich hätte wohl einiges Glück gehabt.
Der heiligste Berg Tibets, Kailash, im Jahre 1998Nordwestlich vom Shisha Pangma: Am Paiku Tso mit Ganesh-Himal
mit dem Ganesh I 7 406 m im Süden: zwischen Nepal und Tibet, 1998
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Blick nach Osten: Paiku Tso mit Shisha Pangma-Gruppe, 1998
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Blick nach Norden zum Paiku Tso, Tibet, 1998
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Mein Himalaya-Abenteuer kam so zu einem guten Abschluss, sollte aber nie zu Ende gehen. Das geheimnisvolle Schneeland auf dem Dach der Welt hat mich nicht mehr losgelassen, bis zum heutigen Tag.