GEISTIGES ERLEBNIS IM HIMALAYA - AUF DEN SPUREN DER LAMAS
Klaus Dierks
© Dr. Klaus Dierks 1982-2004
Es ist 5Uhr30 an einem wunderbaren, frostklaren Vormonsunmorgen im Sherpaland. Die Sonne scheint bereits auf die eisbedeckten Gletscherberge der Kongde-Ri-Kette im Westen, über der an einem tiefblauen Himmel gerade der Mond untergeht. Khum
jung selbst ist noch in Schatten gehüllt. Es ist völlig windstill, die dünne Luft ist kristallklar, eiskalt und prickelnd. Der Rauch des Wacholderholzes steigt aus den vielen Häusern kerzengerade in den Himmel. Raben krächzen, Yakglocken läuten, und Kinder lachen. Die fleißigen Sherpani sind schon seit Tagesanbruch dabei, lachend und singend Kartoffeln in die vorbereiteten Furchen der Äcker zu legen. Ein Sherpa treibt mit Hüh und Hott ein störrisches Dzo-Paar an, dem der Atem in großen Wolken aus den Nüstern steht, den Holzpflug durch die bereifte, gefrorene Erde zu ziehen. Aus dem mit schönen Schnitzereien verzierten Sherpahaus hinter mir leert eine Sherpafrau aus dem ersten Stock den nächtlichen Spüleimer auf den holprig- felsigen, schmalen Weg zwischen den Steinmäuerchen. Ein alter Tibetermönch in roter Robe schreitet mit halbgeschlossenen Augen und weltabgewandtem Gesichtsausdruck, Gebete murmelnd und seine Trenghwa, die Gebetskette, durch die Finger gleiten lassend, vorbei.Khumjung im Khumbu, Nepal
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Plötzlich wird der Frieden dieses herrlichen, gerade angebrochenen Tages durch einen tiefen grollenden Ton angefüllt, der aus dem Himmel zu kommen scheint. Dieser Urlaut der langen alphornähnlichen Dungchen, der Lama-Hörner, beginnt als brummender Bass, einem Ton, der sich mit nichts auf der Welt vergleichen läßt, und schwingt sich, langsam anschwellend, in größere Höhen. Es folgen die hellen Knochentrompeten und dann das Rasseln der Schellen mit den dumpfen Schlägen der Doppelpauken. Fast glaubt man, das hastige, rhythmische Gebetsmurmeln der Lamas in der Gompa zu hören. Die Geräusche fügen sich in die Harmonie, die Ruhe und den Gleichmut dieser überirdischen Landschaft ein. Hier herrscht noch Shangri-La, die sich im Gleichgewicht befindliche Welt des tibetischen Buddhismus im Himalaya. Diese ausgeglichene Welt scheint für den Buddhismus geschaffen worden zu sein. Oder ist es vielleicht so, daß der tibetische Buddhismus nur in dieser Landschaft entstehen konnte? Es wundert mich immer wieder, wie ruhig und friedlich, manchmal geradezu sanftmütig, die Hochgebirgswildnis auf den Betrachter wirkt. Sie veranlasst den Menschen zur Meditation, zur Versenkung in sich selbst, um den Himalaya auch als geistiges Erlebnis zu erfahren.
Buddhistische Mönche rufen zum Morgengebet, Thame-Gompa im
Khumbu: Sherpaland
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Ein alter Tibeter mit Zipfelmütze, der hurtig seine Gebets
mühle dreht, weist mir den Weg zur Gompa. Schon von weitem höre ich das schnelle rhythmische Murmeln der Lamas, das nur von gedämpften, regelmäßigen Paukenschlägen begleitet wird. Vor der Gompa begrüßen mich wild bellende, gefährlich aussehende Hunde, die nach tibetischer Tradition alle Besucher - ob mit freundlichen oder feindlichen Absichten - melden sollen.Potala Palast in Lhasa im Jahre 1997
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Der Blick zum Potala Palast vom Jokhang in Lhasa
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Die heilige Straße Barkhor, die um den allerheiligsten
Jokhang-Tempel in Lhasa herumführt
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Tibetischer Nomade auf dem Barkhor in Lhasa, Tibet
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Das Haupttor in den Klosterhof ist durch einen schweren Vorhängebalken verschlossen. Auf das Rufen des Tibeters kommt ein Trapa herbeigeschlurft, um den knarrenden Balken mühsam wegzuschieben. Sobald man das Gompa-Tor durchschreitet, befindet man sich in einer anderen Welt, der Welt des tibetischen Buddhismus. Das Hauptgebäude der Gompa, das, wie fast alle Gompas, rot oder ockerfarben angestrichen ist, besteht aus zwei Stockwerken. Im Erdgeschoss befinden sich neben dem Vorraum mit einer großen, bunt bemalten und Gold beschrifteten Gebetsmühle die Haupträume der Gompa. Im Lhakang steht das Bildnis der Hauptgottheit des Tempels. Daneben ist der Dukhang, der Gebets- und Versammlungsraum der Lamas, und daran anschließend der Gonkhang, der Raum der Schutzgötter. Hier sieht man die Standbilder der Dharmapalas, der "Beschützer der Lehre" und Tschörten, in denen häufig die Gebeine von Lamas und anderen Heiligen ruhen. Im ersten Geschoss hat der inkarnierte Lama seine Gemächer, die Simtschung. Vom Dach wehen Gebetsfahnen, hier oben befinden sich auch die Dschalts, zylinderförmige Siegesbanner, die wie vergoldete Gebetsmühlen aussehen.
Thikse-Gompa, Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Der Buddha des künftigen Weltzeitalters, Meitreya,
Thikse-Gompa
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Die Fenster der Gompa wirken wie kleine Balkone, die mit den fünf Farben der Elemente bunt bemalt sind. In verschiedenen einzelnen Gebäuden, die sich um die Haupt- Gompa herum gruppieren, wohnen die Lamas und Trapas. Auch Küchen- und Vorratsgebäude sind in diesen Gebäuden untergebracht. Vor dem Dukhanggebäude befindet sich ein von Galerien umgebener Hof, auf dem an den entsprechenden Festtagen die rituellen Cham-Tänze aufgeführt werden. Die Zugangswege zur Gompa sind mit zahlreichen Tschörten und oft langen Manimauern gesäumt.
Die dem tibetischen Schutzheiligen Padmasambhava geweihten
Cham-Tänze (Maskentänze) in der Hemis-Gompa, Ladakh, 1999
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Pilger bei den Cham-Tänzen in Hemis, 1999
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Der Tibeter mit der Zipfelmütze führt mich über eine kurze, dunkle Treppe in einen Vorraum hinauf, der mit bunten Wandmalereien geschmückt ist, die die Grundzüge der "Lehre" vermitteln sollen. Vor diesen, dem westlichen Betrachter verwirrenden Darstellungen, wie dem Rad des Lebens und dem immer wiederkehrenden Mantra "Om Mani Padme Hum", sitzen einige Trapas in rostbraunen Roben und schwatzen. Aus dem Dukhang tönt derweil der Litaneien-Chor der Lamas. Der Dukhang ist fast völlig dunkel, nur spärlich erhellt durch unzählige Butterlämpchen und das Licht, das durch die Tür und den dicken Vorhang fällt, durch den wir gerade über eine hohe Schwelle eingetreten sind, nachdem wir draußen unsere Schuhe ausgezogen haben.
Blick vom Jokhang zum Potala-Palast in Lhasa
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Buddhistische Pilger beim Jokhang in Lhasa
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Die Luft ist schwer von Weihrauch, dem Geruch von Hunderten von Butterlämpchen, sowie von altem vergilbten Papier und moderndem Holz. Die düsteren, tiefrot angemalten Holzsäulen und die schweren Stoffbahnen, die überall an die Wände drapiert sind, lassen den Raum noch düsterer erscheinen. Genau gegenüber der Tür sitzt der uralte Chef-Lama, der Rimpoche, mit untergeschlagenen Beinen im Lotussitz auf einem etwas erhöhten Thron, vor dem ein kleiner Tisch steht. Zwei Reihen von niedrigen, mit Kissen belegten Bänken führen zum Thron des Rimpoche. Sie dienen als Sitze für die Mönche des Klosters. Diese sitzen in langen Reihen auf den Bänken und murmeln stundenlang Litaneien aus den heiligen Büchern, dem Kangschur und dem Tangschur. Die Gebetslitaneien werden immer wieder durch die total fremdartig klingenden Musikeinlagen und das Trinken von Buttertee unterbrochen, der von Zeit zu Zeit von einem jungen Trapa nachgeschenkt wird. Der gleiche Laienmönch schwenkt auch ab und zu ein Weihrauchgefäß. Direkt über dem Altar befinden sich die Statuen der Hauptgötter, wie die des Guru Rimpoche, des Buddha Sakyamuni oder auch des Buddha Maitreya. Rechts und links stehen weitere Standbilder von Heiligen, Bodhisattvas und früheren hohen Lamas und Gönnern der Gompa.
Gompa-Dienst, Thikse-Gompa, Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Die Butterlämpchen werfen ihr spärliches Licht auf die dämonenhaften, geheimnisvoll flackernden Schatten auf den chaotisch-bunt ornamentierten Wänden, die mit zahlreichen Darstellungen aus der tibetischen Mythologie bedeckt sind. Kunstvolle Pyramiden aus Torma oder Gebilde aus Teig, die die verschiedenen buddhistischen Gottheiten darstellen sollen, stehen auf dem Altar. Butter ist während eines Gompadienstes der wichtigste zeremonielle Bestandteil. Weitere Gegenstände, die ich hier im Dukhang der Gompa von Khumjung sehe, sind die Silberpauken, Gyaling, Trommeln, die aus den Knochen einer Jungfrau hergestellt sein sollen, Kangling, die Doppeltrommel der Lamas, Nga-chung, die Silberglocke, Tril-bhu und die zweiseitige magische Trommel, Damru. Dies alles gibt dem Gomparaum den Charakter einer chaotischen Vielfalt, die von den lamaistischen Gläubigen als Spiegelbild des Kosmos verstanden wird.
Mönche beim Gompa-Dienst, Tengpoche, Mani Rimdu 1984
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Ich bin schon in vielen Gompas des tibetischen Buddhismus zu Gast gewesen, von Ladakh im Westen bis nach Sikkim im Osten, von Tibet im Norden bis nach Benares/Varanasi in der Ganges-Ebene, und jedes Mal kehrte ein Gefühl der Ruhe, eines ausgeglichenen Friedens und einer vollkommenen Weltentrücktheit in mir ein. Die Klosterszenen sind immer wieder ähnlich, so wie die Gompas alle nach einem architektonischen Grundplan aufgebaut sind. Diese Ähnlichkeit erstreckt sich von den ladakhischen Klöstern von Lamayuru und Tikse, von der Thame Gompa im Sherpaland bis hin zu den "Säulen des Glaubens" in Tibet, den Gelbmützenklöstern von Lhasa: Drepung, Sera und Ganden. Es ist schwer zu definieren, was in einem vorgeht, wenn man einer Inkarnation eines Bodhisattvas, wie dem Rimpoche Tenpe Gyaltsen in der Gompa von Thame, gegenübersitzt. Die Verständigung ist wegen meiner beschränkten tibetischen Sprachkenntnisse oft schwierig. Trotzdem stellt sich bei aller westlichen Skepsis gegenüber übersinnlichen Erscheinungen fast umgehend ein Gefühl der vollkommenen inneren Harmonie ein. Es ist so, als wenn ich einen geladenen elektrischen Draht berührt hätte.
Der Rimpoche der Hemis-Gompa, Ladakh, während eines
Gompa-Dienstes bei den Cham-Tänzen 1999
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Sich in diese Welt einer lamaistischen Gompa zu begeben, hat wohl nur dann Sinn, wenn man für alle geistigen Erlebnisse völlig offen ist, wenn man sich auf einen fernen imaginären Punkt konzentriert, um sich zu öffnen und das Neue, das diese Begegnung mit sich bringt, an sich selber zu erfahren. Man muß gewillt sein, die gewohnte Lebensweise und die bisherige Lebensphilosophie in Frage zu stellen. Einer der Grundsätze des tibetischen Buddhismus ist, daß Streben nach Erfolg, nach Macht, Fortschritt, Reichtum und auch nach Liebe in eine Sackgasse des menschlichen Lebens führt.
Hier, in der Welt des Hoch-Himalaya, fällt diese Einsicht leicht. In einer Umwelt von Gebirgsöde, von Gletschern und Eisriesen gelten ganz sicher andere Werte als in der modernen Welt des Westens. Im Himalaya kann der Mensch nur mit einem Minimum an Aufwand überleben. Er kann unter schwierigsten natürlichen Bedingungen etwas Landwirtschaft betreiben. Die wenigen Bauern auf dem Dach der Welt müssen auch noch die Gompas mit ernähren. Der begrenzte Lebensraum zwingt Sherpa und Tibeter zur Geburtenkontrolle. Vor diesem Hintergrund ist die Polyandrie, die Vielmännerehe, zu sehen. Erbprobleme werden dadurch vernünftig gelöst, die Zerstückelung des kostbaren Ackerbaubodens wird verhindert, und der Schutz des Hauses ist durch die ständige Anwesenheit wenigstens eines Mannes jederzeit gewährleistet. Es sind nicht nur hochgeistige Erkenntnisse, die man hier gewinnt, sondern auch ganz einfache Tatbestände, die plötzlich verständlich werden.
In diesem Shangri-La gibt es natürlich auch Probleme, die durch moderne Entwicklungen hervorgerufen werden. Seit im Sher
paland die ersten Schulen eröffnet wurden, haben die Gompas Nachwuchsprobleme. Die Laien-Mönche und jene jungen Männer, die es früher vielleicht geworden wären, erkennen mehr und mehr, daß sie meistens auf einer niedrigen Geistesstufe stehen bleiben würden und nicht die Erkenntnisse der hohen Lamas erwerben können.Aber selbst wenn der Fortbestand der Gompas auf lange Sicht in Frage gestellt wäre, so werden Tschörten, Gebetsfahnen, Mani
mauern und andere religiöse Symbole auch weiter auf den historischen Buddha hinweisen, der die Welt des Himalaya, die uns begeistert, aber auch erschreckt, auf die Daseins-Stufe des "Nichtseins" verweist. Darjeeling in West-Bengalen im Jahre 2000Ghoom oder Yogachoeling Gompa südlich von Darjeeling
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Meitreya oder der Buddha des zukünftigen Weltzeitalters in der
Ghoom-Gompa
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Thangka, der Begriff für die auf Stoff oder Leder gemalten Rollbilder in den Gompas, läßt sich mit "was man aufrollt" übersetzen. Thangkas sind Meditationshilfen, erfüllen Hilfsfunktionen, die zu einer höheren Bewusstseinsstufe führen sollen. Sie sind aber auch ganz einfach Modellandschaften, reich an Farben, Formen und Ornamenten wie orientalische Teppiche in der vorderasiatischen Wüste, die der Eintönigkeit und der gefahrvollen Einsamkeit des Hoch-Himalaya gegenüber gestellt werden. Alle diese äußeren Zeichen des tibetischen Buddhismus haben nur einen Daseinszweck: Sie weisen den Weg in die "geistige Landschaft" des Himalaya, um aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten auszubrechen und das Nirvana zu gewinnen. Diese Symbolwelt muß der außenstehende Beobachter zunächst einmal oberflächlich und rein äußerlich zur Kenntnis nehmen, um Eingang in die geistige Landschaft einer Gompa zu finden.
In dem geheimnisvoll-dunklen Hauptraum der Gompa von Beding im Rolwaling sitzt der Ur-Buddha, Vajradhara, mit vor der Brust gekreuzten Händen, in denen er Vajra und Ghanta, Donnerkeil und Glocke, als Symbole für das ewig männlich-weibliche Prinzip hält. Auf tibetisch nennt man dieses Prinzip Yab-Yum, Vater-Mutter. Wir sehen auch den historischen Buddha, Sakyamuni, der als Bettelmönch dargestellt ist, und eine Figur des Avalokiteshvara, eines Bodhisattva einer der fünf Meditations-Buddhas, Amithaba. Avalokiteshvara, auf tibetisch Tschenresig genannt, ist die buddhistische Verkörperung universaler Liebe und allumfassenden Mitgefühls. Wir stehen einer fast unübersehbaren Anzahl von Gottheiten gegenüber, die die Bedeutungstransformation von der menschlichen Scheinwelt auf die wirkliche Welt der kosmischen Ganzheit darstellt.
Der historische Buddha-Sakyamuni in der Spituk-Gompa bei Leh in
Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Auf zahlreichen Thangkas ist eine komplizierte Mandala, das Symbol des Weltalls, gemalt, das aus einer Fülle von geometrischen Formen und Gottheiten besteht. Das Wort "Mandala" heißt im Sanskrit "Kreis". Der Mittelpunkt des Kreises symbolisiert Buddhas Grab, das als Zeichen für das höchste Ziel des Menschen, das Nirvana, dient. Auch die Mandala erfüllt eine Hilfsfunktion auf dem Wege zur Erleuchtung. Sie enthält außerdem eine Schutzgottheit, Yidam, die jeder Mensch braucht, der sich der letzten Erkenntnis nähert. Ein Yidam ist der Führer aus der Wirrnis des irdischen Daseins in das alles auslöschende Nirvana. Er hilft dem Suchenden, auf dem gewählten Weg zur Erlösung zu bleiben. Ein strenger Moralkodex ist dabei nicht zu befolgen. Durch den Yidam wird die irdische Existenz mit einem höherstufigen Dasein identifiziert, das sich auf dem "Pfad Buddhas" zur letzten Weisheit befindet. Der letzte Schritt auf diesem Wege wird vollzogen, wenn der Mensch die irdische "Scheinwelt" der Wiedergeburten, Samsara, verlässt und mit dem Yidam zu einem Ganzen verschmilzt.
Tashi Lumpo in Shigatse, 1997
Photos: Copyright: Klaus Dierks
"Rad des Lebens-Mandala" in der Tashi Lumpo-Gompa in
Shigatse, Tibet
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Die Wahl eines persönlichen Yidam erfolgt nach einem strengen, geheimnisvollen Ritual in der Gompa mit Hilfe der fünf Meditations Buddhas, denen je ein Bodhisattva zugeordnet ist. Die Meditations Buddhas werden auch Tathagata- oder Dhyani Buddhas genannt. Der Tathagata Buddha " Vairocana", der Buddha der Weltmitte, und die vier Tathagata der vier Himmelsrichtungen stellen das himmlische Koordinatensystem dar. Amithaba steht für den Westen, Akshobya für den Osten, Amogasiddhi für den Norden und Ratnasambhava für den Süden.
Die Tathagata Buddhas des örtlichen Koordinatensystems verschmelzen mit den vier Buddhas des zeitlichen Koordinatensystems: mit dem Ur-Buddha Vaj radhara oder Adibuddha, aus dem alle anderen Buddhas entstanden sind, sowie dem historischen Buddha Sakyamuni, dem Buddha des letzten vergangenen Zeitalters, Kashyapa, und dem Buddha der Zukunft, Maitreya, der in 2 500 Jahren auf die Erde kommen soll.
Die Schutzgottheit des Yidam ist als Symbol der Kraft zur Überwindung der irdischen Scheinwelt ein männliches Prinzip. Die weibliche Anti-These dazu ist Prajna, Sinnbild der Weisheit und Weichheit sowie der Vereinigung als Mittel der Befreiung und Erlösung. Das Yab- Yum-Prinzip entspricht der Vereinigung zur Vollkommenheit von Yidam und Prajna. Jeder Buddha und jeder Bodhisattva, außer dem einen, der bereits alles überwunden hat und der höher als alle anderen Buddhas eingestuft wird, Buddha Sakyamuni, hat diese weibliche Gegenform, die im Sanskrit Shakti genannt wird. Aus der Geisteshaltung, daß Vollkommenheit durch die Vereinigung von Gegensätzen erreicht wird, sind auch die vielen erotischen Darstellungen an den nepalischen Newar-Tempeln zu verstehen.
Die fast endlose Götterwelt ist für einen Nicht-Buddhisten kaum zu überblicken. Oberflächlich lassen sich die Gottheiten und Heiligen des tibetischen Buddhismus in sieben Gruppen einteilen: Buddhas, Bodhisattvas, Dakinis, Dharmapalas, Yidams, lokale Naturgottheiten und Heilige wie Rimpoches, Lamas und Lehrer.
"Rad-des-Lebens-Mandala (Bhâvachakra)"
(links) und Dharmapala in der Pemayangtse-Gompa in West-Sikkim
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Zur ersten Gruppe gehören die vier zeitlichen Buddhas und die fünf örtlichen Tathagata Buddhas mit ihren Bodhisattvas und Shaktis. Diese verschiedenen Buddhas sind durch ihre charakteristischen Handhaltungen, Mudra, durch bestimmte Farben und Elemente, sowie typische Symbole wie Donnerkeil, Rad, Lotus und Juwelen zu erkennen. Neben diesen Buddhas gibt es noch sieben Medizin Buddhas und fünfundzwanzig Buddhas der Beichte und der Wünsche.
Der Buddha der Zukunft, Maitreya, 7. nachchristliches
Jahrhundert, späte Gupta-Zeit, Mulbekh, Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Mönch in der Mulbekh-Gompa, Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Ähnliche Verehrung genießen die Bodhisattvas, die bereits ins Nirvana eingegangen waren, aber freiwillig auf die Erde zurückgekehrt sind und bleiben wollen, bis alle Lebewesen auf dieser Welt aus dem Kreislauf der Wiedergeburten erlöst sind. Bedeutende Bodhisattvas sind Ava lokiteshvara oder Tschenresig, der Bodhisattva des himmlischen Mitleids und der Liebe, Manjusri oder auf tibetisch Dschampai Dschang, der Bodhisattva der göttlichen Weisheit und Vaj rapani, der auf tibetisch Tschagdorje heißt. Weibliche Bodhisattvas sind die Taras, die auf tibetisch Dolma heißen. Dakinis sind fliegende weibliche Gottheiten und Dämoninnen, die meist als nackte Jungfrauen, mit einer Kette aus Menschenschädeln geschmückt, dargestellt werden.
Passstraße zwischen Lamayuru-Gompa und Khalsa im Indus-Tal,
Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Blick von der Lamayuru-Gompa nach Wangla und in den Zanskar,
Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Lamayuru-Gompa, Ladakh
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Wangla in der Nähe der Lamayuru-Gompa, Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Blick von der Wangla-Gompa in die Zanskar-Berge, Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Avalokiteshvara - Tschenresig in der Wangla-Gompa, Ladakh
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Die Dharmapalas sind die "schrecklichen Gottheiten als Beschützer der Lehre". Sie werden tibetisch Tschoitschong genannt und sind ehemalige Bön-Dämonen der vorbuddhistischen tibetischen Naturreligion, die von Padmasambhava, dem Begründer des Buddhismus in Tibet, im 8. nachchristlichen Jahrhundert, zu buddhistischen Schutzgöttern ernannt wurden, um den Tibetern den Übertritt zum Buddhismus zu erleichtern. Die Dharmapalas können aber auch hinduistischen Ursprungs sein. Sie werden meistens als in Bewegung erstarrte Tänzer - das dritte Auge der Weisheit auf der Stirn, den Rachen mit raubtierhaften Eckzähnen schrecklich aufgerissen und mit Ketten von abgeschlagenen Menschenköpfen bekleidet - dargestellt. Typische Dharmapalas sind Yamantaka, tibetisch Schindsche-sched genannt, sowie Mahakala, mit dem tibetischen Namen Gompo und die Göttin Lhamo, die Schutzgöttin Lhasas.
Yidams sind persönliche Schutzgottheiten. Jeder, der nach Erleuchtung strebt, muß sich einen solchen Schutzgott auswählen. Nur der Meister-Lama und der Schüler kennen den jeweiligen Yidam, dessen Identität keiner anderen Person kundgetan werden darf.
Die wichtigsten örtlichen Gottheiten sind neben den vielen Göttern von Bergen, Flüssen und Seen die vier Dämonenkönige, die auf dem "Weltberg Meru" herrschen: Vaishrana für den Norden, Dhritarashtra für den Osten, Virudhaka für den Süden und Virupaksha für den Westen.
Es gibt eine unübersehbare Menge von Heiligen, von denen hier nur einige genannt werden können, nämlich die Begründer der tibetischen Sekten, die Reformatoren des Lamaismus, religiöse Dichter, Lehrer und Zauberer.
Zusammenfluss von Nubra und Shyok im östlichen Karakorum,
Ladakh (1999 Expedition)
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Wilde Kamele (Trampeltiere) im Shyok-Tal im östlichen
Karakorum, Ladakh (1999 Expedition)
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Deskit-Gompa im Shyok-Tal im östlichen Karakorum, Ladakh
(1999 Expedition)
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Der Mahayana Buddhismus soll im ersten nachchristlichen Jahrhundert von Nagardschuna begründet worden sein. Padmasambhava, der als Guru Rimpoche besonders von den Sherpa verehrt wird, brachte den Buddhismus nach Tibet. Atisha führte im 10. Jahrhundert das Kalacakrasystem als Reformbewegung des tibetischen Buddhismus in Tibet ein. Marpa ist ein tibetischer Guru, der Mitte des 11. Jahrhunderts die Kar-Gyud-pa-Sekte gründete, der die Sherpa heute noch angehören. Milarepa war der größte Dichter Tibets. Tsong-Kha-pa, der den tibetischen Buddhismus nachhaltig reformierte, lebte im 15. Jahrhundert und legte den Grundstein für die gelbe Kirche, Gelug-pa, und die Reihe der Dalai Lamas.
Nyalam inTibet mit der Höhle Milarepas in der
Milarepa-Gompa mit Blick nach Süden: nach Nepal in den Langtang-Himalaya
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Nyalam mit der Höhle Milarepas in der Milarepa-Gompa
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Weitere Meditationshilfen auf dem schwierigen Wege zur Erlösung sind die tantrischen Texte. Das Sanskrit Wort "Tantra" heißt Gewebe oder Kettfaden. Die uralten tantrischen Texte geben den Dialog zwischen dem hinduistischen "Gott der Weltzerstörung und -erhaltung", Shiva, und seiner Shakti, Durga, wieder. In Nepal verbindet der Tantrismus als kosmische Lehre die beiden großen Religionen Südasiens, Hinduismus und Buddhismus.
Steilaufstieg zum buddhistischen Heiligtum Swayembunath,
westlich von Kathmandu in Nepal
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Die Stupa von Swayembunath, die auch von Hindus verehrt wird
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Pilger in Swayembunath
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Die Stupa mit den "allessehenden Augen Buddhas" in
Bodnath, östlich von Kathmandu in Nepal
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Pilger im tibeto-buddhitischen Heiligtum in Bodnath
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Die Stupa des tibetischen Buddhismus Chabahil zwischen
Pashupatinath und Bodnath
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Jede Gottheit im tibetisch-buddhistischen Pantheon kann durch ihre spezifische Handhaltung und bestimmte Formen und Farben identifiziert werden.
Man sollte als "Suchender" aus dem westlichen Kulturkreis nicht danach streben, in die tantrischen Geheimnisse einzudringen, die als letzte Stufe des tibetischen Buddhismus angesehen werden. Man sollte sich zunächst mit der Geschichte und den äußeren Formen des Lamaismus befassen. Wenn man auf diese Weise weitergekommen ist, kann man immer noch entscheiden, ob man tatsächlich die buddhistische Erleuchtung anstreben will.
Worin liegt nun für den Menschen des westlichen Kulturkreises die Faszination des tibetischen Buddhismus? Auf den ersten Blick könnte diese Religion als ein grauslicher Götzenkult mit dämonenhaften Götterfratzen abgetan werden. Man muß schon hinter die Fratzen schauen, um zu entdecken, daß gerade diese Religion, die auf dem Dach der Welt entstanden ist, viel mehr als das ist.
Das System der kalten, überverwalteten computerbeherrschten Welt von Leistung und Pflichterfüllung führt zu gestörten, gespaltenen Persönlichkeiten. Viele tappen in dieser Welt wie unglückliche Blinde herum und ahnen, daß es irgendwo noch einen anderen Lebenssinn geben muß. Beruf und verplante, vorprogrammierte Freizeit mit kommerziellem Hintergrund, Konsumzwang statt Erkenntnisse, alles dies kann nicht der letzte Sinn des Lebens sein.
Die einen suchen den Ausweg in Ersatzbefriedigungen, durch materiellen Zuwachs und Zerstreuung sowie durch künstliche Suchtmittel. Die anderen suchen das Ziel durch natürliche Suchtmittel, wie Bergsteigen, zu erreichen. Der Himalaya-Bergsteiger aus dem Westen sucht nicht nur die schönste Bergnatur der Welt, sondern genauso auch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens in einer sinnlos erscheinenden technisierten Massenwelt.
Man strebt unwillkürlich nach einer sinnvollen Lebensgestaltung in einer in sich selbst ruhenden, harmonischen Welt. Man sucht nach einer Ordnung, in der man das Weltall erkennen kann. Ist es ein Zufall, daß es eine solche Welt noch gibt, eine Welt, die durch die gewaltige Natur des Himalaya und den tibetischen Buddhismus geprägt wird? Der tibetische Buddhismus ist aus der Begegnung des Menschen mit der übermächtigen Natur des Himalaya auf der Grundlage des Mahayana Buddhismus entstanden.
Der Begründer dieser geistigen Welt ist der Guru Padmasambhava aus Uddiyana, dem Swat-Tal im pakistanischen Teil des Himalaya, der die Tradition des Nyingma-pa, die Rotmützensekte oder "Schule der Alten" ins Leben rief. Padmasambhava, der auch Guru Rimpoche genannt wird, brachte die Richtung des Mahayana Buddhismus nach Tibet. Er zeigte keine neue Glaubenslehre auf, wie Jesus Christus oder Mohammed es taten, sondern wies nur einen Weg zur Erkenntnis, denn der tibetische Buddhismus ist keine dogmatische Religion, sondern der "Weg des Einzelnen". Jeder muß nach seiner eigenen Façon selig werden, seinen eigenen Weg zur höchsten Erkenntnis gehen.
Der Buddhismus kam während der tibetischen Yarlung-Dynastie im
6. nachchristichen Jahrhundert auf das Dach der Welt. Die Yarlung-Dynastie stammt aus dem
Yarlung-Tal, östlich von Lhasa
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Yumbu Lhakang im Yarlung-Tal ist der Palast der Yarlung-Dynastie
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Der Yumbu Lhakang soll das älteste Gebäude Tibets sein
Photo: Copyright: Klaus Dierks