EIN SCHNEEMENSCH HAT MIR GERADE NOCH GEFEHLT
Klaus Dierks
© Dr. Klaus Dierks 1982-2004
An einem sturmdurchtosten, schneedurchwirbelten, eiskalten, dunklen Abend, während wir zähneklappernd in einer verrußten, rauchdurchzogenen, niedrigen Sherpahütte in Gokyo am Fuße des 8 153 Meter hohen Cho Oyu vor einem kärglichen Reisigfeuerchen sitzen, kommt die Rede fast von selbst auf das vielleicht letzte nicht entschlüsselte Geheimnis des Himalaya, den mysteriösen Schneemenschen. Das Feuer flackert traurig, der Atem steht in großen Wolken in der dünnen Luft. Wir haben die Besteigung unseres ersten Gipfels in diesem Jahr, 1982, hinter uns gebracht und noch keine Lust, in unser sargähnlich-enges, dunkles, eine schlechte Nacht versprechende, Zelt zu kriechen.
Cho Oyu 8 153 m: Blick vom südlichen Basislager: Südwand
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Blick vom Gokyo Kang 5 800 m im Cho Oyu-Gebiet: Blick nach
Süden
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Eine typische Sherpa-Hütte in Chukhung
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Seit mehr als vierzig Jahren, seit meiner ersten Himalayadurchquerung im Jahre 1959, versuche ich dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, frage ich die Sherpa nach dem Yeti Miteh, dem "dämonenhaften Felsmenschen" des Sherpalandes.
Bei der Erwähnung dieses Namens schauen die Sherpa ernsthaft drein, Scherze und Gelächter sind von einer Sekunde zur anderen wie weggeblasen. Unser Sherpa Sirdar, Dawa Thondup, wirft nicht viel neues Licht auf das Fabelwesen. Er selbst hat auf seinen vielen Expeditionen nie einen Schneemenschen zu Gesicht bekommen. Er erzählt uns jedoch eine Yetigeschichte, die sein ältester Sohn, Mingma, der auch auf unserer Expedition als Träger mit geht, 1979 als Yakhütejunge bei Khumjung erlebt hat.
Dawa Thondups Sohn Mingma in Chukungh, östlich vom Amphu
Laptsa, wo wir 1982 ein indirektes Erlebnis mit einem Schneemenschen
hatten
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"Spät an einem Nachmittag hörte Mingma Laute, die aus den Felsen oberhalb der Yakweide kamen. In der Annahme, daß es sein Bruder, Ang Nima sei, wartete Mingma geruhsam auf die Gestalt, die sich ihm langsam näherte. Kurz darauf rannte er so schnell er konnte zur nächsten Hütte und schloss sich ein, denn der Besucher war nicht Ang Nima, sondern ein Yeti. Das tierähnliche Wesen folgte ihm und umkreiste die Hütte. Es hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Menschen, war mittelgroß, sehr kräftig gebaut und mit rötlichbraunem Haar bedeckt, das sehr lang und borstig schien. Das Gesicht war nackt, braun und schien flacher als das eines Menschen zu sein. Es hatte dicke Augenwülste, eine nach hinten fliehende Stirn und ein stark zurückweichendes Kinn. Der Kopf lief nach oben spitz zu und hatte einen Kamm aus bürstenartigen Haaren. Der Schneemensch, dessen Hände denen eines Menschen glichen, lief aufrecht. Seine Arme waren lang und wurden manchmal als zusätzliche Laufhilfe benutzt. Nach einigen vergeblichen Versuchen, in die Hütte zu gelangen, ließ der Yeti von seinem Vorhaben ab, stieß den bekannten Schrei "huuui" aus und verschwand mit schaukelnden Schritten im Wacholderdickicht.
Der Anmarsch zum Amphu Laptsa mit einem Berg ohne Namen im
Süden, östlich vom Amai Dablam
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Dawa Thondup meint, daß wir gute Aussichten hätten, einen Yeti irgendwo zwischen Amphu Laptsa und West Col zu begegnen, da sich der Schneemensch in dieser abgelegenen Himalayagegend aufhalten soll. Er liebt offensichtlich die Einsamkeit und meidet die Menschen. Deshalb bekommen große Expeditionen ihn auch nie zu Gesicht. Kleinst-Expeditionen wie die unsrige hätten da eine bessere Chance. Dawa erzählt uns auch, daß der Yeti Miteh Tibet mehr liebe als Nepal und sich lieber in fünftausend als in viertausend Meter Höhe aufhalte. Er fügt allerdings hinzu, daß nur der, der fest an die Existenz des Yeti glaube, Aussichten habe, ihn zu sehen.
Unser Lager auf dem Amphu Laptsa Gletscher mit dem Amphu Laptsa
im Hintergrund
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Die 6 000 m hohe Amphu Laptsa-Kette mit Baruntse 7 290 m links
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Der entscheidende Tag der gefürchteten Amphu Laptsa-Übersteigung wird uns, so wie Dawa Thondup es uns Wochen vorher am Cho Oyu versprochen hat, tatsächlich einen mysteriösen Kontakt mit dem Schneemenschen des Himalaya bringen. Aus diesem Grunde werde ich den 1. Mai 1982 niemals vergessen.
Als ich an diesem Tage, nach durchfrorener Nacht, meinen eisbedeckten Kopf aus dem Zelt stecke, kommt Dawa mit einer Reihe von unerfreulichen Schwierigkeiten: Die Lasten seien für die Amphu-Überquerung für unsere Träger zu schwer. Der Vorwurf in Dawas Stimme ist nicht zu überhören, obwohl er die Lasten selbst eingeteilt und die Anzahl der Träger bestimmt hat. Es war auch ausgemacht worden, daß Dawas jüngster Sohn, Ang Nima, nicht die schwierige Amphu-Überschreitung mitmachen soll, da er mit seinen sechzehn Jahren für eine solche bergsteigerische Gefahrensituation noch zu jung sei. Auf Dawas Wunsch soll Ang Nima an diesem Morgen alleine nach Khumjung zurückkehren. Der Abstieg sei für Ang einfach und führe ihn in zwei bis drei Tagesmärschen durch eine ihm vertraute Umwelt über Chukhung, Dingboche, Pangpoche, Tengpoche nach Khumjung. Es ist niemals die Rede davon gewesen, daß Ang Nima mitkommen solle, da wir für ihn nicht die geeignete Ausrüstung wie schwere Gebirgsschuhe, Steigeisen, Pickel und Schneebrille mitgenommen haben.
Nach langen Diskussionen mit unseren Sherpa und einigen, wohl durch das "Sektpfropfenstadium" hervorgerufenen, Wutanfällen meinerseits, geht es dann, viel zu spät, um sieben Uhr los. Für den zögernden Aufbruch der Sherpa habe ich allerdings viel Verständnis. Sie haben vor dem Amphu sicher so viel Angst wie wir.
Vor dem Aufbruch bekommt Ang Nima seinen Lohn und ein gutes "Bakschisch" für die treuen Dienste während der ersten vier Wochen unserer Expedition. Er zieht fröhlich pfeifend von dannen und läßt durch nichts erkennen, daß er es vielleicht vorgezogen hätte, das große Bergabenteuer mit uns zu teilen. Er ist ganz offensichtlich zufrieden, daß ihm die Strapazen, die uns erwarten, erspart bleiben.
Zunächst kreuzen wir den großen Amphugletscher. Jetzt, am frühen Morgen, ist noch alles im Tieffrost erstarrt, und die Schneebrücken über die vielen Glet
scherspalten halten unser Gewicht. Danach beginnt der schwierige Einstieg in die Steilwand des Amphu, die uns nach Luft schnappen läßt. Meine Gedanken kehren von Zeit zu Zeit zu Ang Nima zurück, der sich auf relativ bequemen, sicheren Wegen abwärts befindet. Ich beneide ihn von ganzem Herzen.Rast während des Aufstieges zum Amphu Laptsa
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Unser Sherpa-Sirdar DawaThondup während des Aufstieges zum
Amphu Laptsa mit Lhotse/Everest-Gruppe im Hintergrund
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Amphu Laptsa mit Baruntse im Hintergrund
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Während einer der zahlreichen Keuchpausen höre ich plötzlich unter mir etwas, das wie ein menschlicher Schrei klingt. Erst glaube ich an eine durch zu geringen Sauerstoff hervorgerufene Halluzination. Dann machen mich unsere Sherpaträger darauf aufmerksam, daß die Schreie von Ang Nima stammen, der offenbar eilig hinter uns die Steilwand hochklettert, obwohl ihn niemand sichert, da wir die festen Seile auf dieser Strecke bereits abgebaut haben. Ich kann nicht verstehen, was diesen intelligenten, immer fröhlichen, zähen kleinen Burschen treibt, sich ohne entsprechende bergsteigerische Ausrüstung in diese Eiswand zu begeben. Als uns Ang Nima endlich erreicht, ist er tränenüberströmt und wird von Panik geradezu geschüttelt. Er erzählt uns mit einer Flut von Worten, daß er beim Abstieg vom Basislager nach Chukung einem Schneemenschen begegnet sei.
In fast sechstausend Meter Höhe, umgeben von Bergen, auf denen Götter wohnen, ist natürlich alles möglich. Ich weiß nicht, was ich von der Geschichte halten soll, und meine erste Reaktion ist: "Ein Schneemensch hat mir gerade noch gefehlt!"
Der Verfasser auf dem Gipfel des Amphu Laptsa mit Blick in den
Hongu, nach Anhörung der mysteriösen "Yeti-Geschichte" Ang Nimas
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Den Wahrheitsgehalt der "Yeti-Geschichte" kann ich nur an Ang Nimas Reaktion überprüfen. Obwohl er sich durch fehlende Ausrüstung in Lebensgefahr befindet, ist er durch nichts zu bewegen, die zweifelhafte Sicherheit unserer Gruppe aufzugeben und eine erneute Begegnung mit dem Schneemenschen zu riskieren.
Nach wiederholter eindringlicher Befragung finde ich heraus, daß Ang Nima den dunklen Kopf eines Yeti Miteh gesehen und seinen charakteristischen Schrei "huuui" gehört haben will. Er ist fest davon überzeugt, daß der geheimnisvolle Dämonenmensch des Himalaya ihn bei einem erneuten Treffen töten würde.
Angs Vater, Dawa Thondup, nimmt die "Yeti-Geschichte" seines Sohnes ungerührt zur Kenntnis und glaubt offenbar, wie alle anderen Sherpa in unserer Gruppe, ganz selbstverständlich an die Existenz des Yeti. Eine rationale Erklärung könnte sein, daß Ang Nima beim Abstieg unter Angstvorstellungen gelitten und sich nur eingebildet hat, das Fabelwesen gesehen zu haben. Für die Sherpa ist der Yeti ein untrennbarer Bestandteil ihrer von Göttern und Dämonen bewohnten Umwelt.
Oder vielleicht wollte er mir, seinem Bara Sahib, nur eine Freude machen? Ang Nima wußte, wie sehr ich mich für den Schneemenschen interessiere. Die Sherpa setzen in bergsteigerischen Notsituationen in nobler Pflichterfüllung immer wieder ihr Leben für ihre Bergkameraden aufs Spiel, und viele sind zusammen mit ihren Freunden aus anderen Teilen der Welt in den Bergen geblieben. Ich habe allerdings noch nie gehört, daß sie ihr Leben riskieren, um uns lediglich eine Freude zu machen. Wenn Ang außerdem den Wunsch verspürt hätte, uns bei dem schwierigen Unternehmen zu begleiten, dann hätte er das gewiß einfacher haben können.
Abstieg vom Amphu Laptsa durch den Eisbruch in den Hongu: Das
ist die Welt des mysteriösen Schneemenschen des Himalaya
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Blick vom Amphu Laptsa-Eisbruch auf den Amai Dablam von Osten
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Bruce Campbell-Watt im Amphu Laptsa-Eisbruch
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Es gibt viele Geschichten über den Yeti, wenn auch nur wenige Hinweise auf seine Existenz. Jeder europäische Bergsteiger hat insgeheim den Wunsch, einmal einen Schneemenschen zu Gesicht - oder besser vor die Kamera - zu bekommen. Es gibt Bergsteiger, wie Norman G. Dyhrenfurth, die fest an das Bestehen des Yeti glauben und - wenn auch bisher vergebliche - Suchexpeditionen nach ihm unternommen haben. Es gibt andere, wie Reinhold Messner, die nicht an die Existenz eines solchen Fabelwesens glauben wollen. Mein Freund Mike Cheney von der "Sherpa Co-operative" in Kathmandu, der, vor seinem Tode, über dreißig Jahre lang Expeditionen in den Nepal-Himalaya organisiert hatte, ließ beide Ansichten gelten. Nach seiner Erfahrung brachte jedes Jahr wenigstens eine Expedition eine gute "Yeti-Geschichte" nach Hause.
Thame Gompa, links: Nima Lama, unser Sherpa-Sirdar 1980
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Unser Sherpa-Sirdar von 1980, Nima Lama, glaubt wie die meisten Sherpa an das Vorhandensein des Schneemenschen. Sein Großonkel war Lama in der berühmten tibetischen Gompa in Rongbuk an der Nordseite des Mount Everest. Nima Lama erzählte mir, daß die Lamas der tibetischen Klöster ein Abkommen mit den Yetis hätten und daß die Lamas die Yetis schützten. Yetis und Lamas besuchten sich gegenseitig und ständen miteinander durchaus auf gutem Fuße.
Ein tibetisches Dorf südlich vom Pang La, auf dem Anfahrtswege
nach Rongbuk, dem Everest-Kloster auf der Nordseite
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Das Dorf Passum auf dem Anfahrtswege nach Rongbuk, Tibet, 1997
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Rongbuk-Gompa, Tibet, 1997
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Die Chomo Lungma vom tibetischen Basislager aus in Rongbuk,
1997: Auch das ist nach der Überlieferung der Sherpa "Schneemenschen-Welt"
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In der uralten weltabgeschiedenen Gompa von Beding, direkt an der tibetischen Grenze, höre ich in Gegenwart von Nima Lama eine ganz andere Yetigeschichte. Der wiedergeborene lebende Bodhisattva des Klosters Beding erzählt mir im Oktober 1980, daß die Yetis im Winter oft das Kloster besuchen kämen. Die Lamas müßten die Yetis dann mit Hilfe von tibetischen Blashörnern und Gongs vertreiben. Ich erfahre auch, daß Beding vor vierunddreißig Jahren von einer gewaltigen Schneelawine verschüttet worden sei. Eine Sherpafrau sei damals in ihrer Hütte lebendig begraben worden. Ihre Rufe und die ihrer Kinder soll man noch heute in unheimlichen, dunklen Nächten hören. Damals, in jenem schneereichen Winter, habe man häufig Schneemenschen gehört. Ihr seltsamer, pfeifender Schrei habe durch die kalten Nächte geklungen, und morgens habe man die bekannten großen Fußabdrücke im frisch gefallenen Schnee gefunden.
Beding, Hauptort des Rolwaling mit Gaurisankar im Hintergrund
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Sherpa-Kinder in Beding im Rolwaling
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Sherpa-Frau in Beding im Rolwaling
Photo: Copyright: Klaus Dierks
In einer dunklen Ecke des Klosters zeigt mir der Lama Rimpoche eine Reihe von merkwürdigen Bildern, die er als Schneemenschendarstellungen bezeichnet. Sie haben wenig Ähnlichkeit mit dem Wesen, das üblicherweise als Schneemensch beschrieben wird. Selbst die tierköpfige tibeto-buddhistische Gottheit, Dorje Tsempo, wird mir als weibliche "Yetini" vorgestellt. Die Tibeter nennen den männlichen Yeti "Drepo" und den weiblichen "Dremo". Während des Gompabesuches erzählt mir der Lama, daß er kürzlich einen etwa fünf Fuß großen Yeti am Kloster beobachtet habe, der einem Idioten geglichen hätte. Da es wegen der weltfernen Abgeschlossenheit von Beding und der daraus resultierenden Inzucht der Rolwaling-Sherpa viele Kretins gibt, scheint mir jedoch auch das kein Beweis für das Vorhandensein des Schneemenschen zu sein.
Die "Schneemenschen-Gompa" in Beding im
Rolwaling
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Nima Lama teilt die Schneemenschen in drei Gruppen ein. Ihm zufolge gibt es den großen Dzu-teh, eine Affenart, die Rinder und Yaks anfällt. Dann gibt es den Yeti Miteh, einen Zweibeiner ohne Schwanz und mit spitz zulaufendem Schädel. Der Miteh ist der eigentliche Schneemensch, der auch Menschen angreift. Er gibt pfeifende Laute von sich und lebt in Höhen zwischen 4 600 und 5 100 Meter. Und schließlich gibt es noch den Thelma, eine harmlose Affenart, die in den dichten Wäldern unterhalb von dreitausend Metern vorkommt.
Ich frage Nima Lama, ob er schon einmal einen Yeti gesehen hätte. Seine Antwort steht im Gegensatz zu der, die mir Tenzing Norgay 1959 in Darjeeling gegeben hatte: "Es sind immer die anderen, die den Yeti gesehen haben". Nima Lama dagegen sagt mir, daß Menschen den Yeti fast niemals zu Gesicht bekämen, weil er vor ihnen fliehen würde. Der Schneemensch lebe alleine in großen Höhen und verlasse seine Zufluchtsorte, wie etwa Höhlen, im allgemeinen nur nachts. Manchmal, wenn er sehr hungrig sei, begebe er sich in die Nähe von Dörfern und stehle alles Eßbare, das er in die Finger bekäme. Wenn er ein Geräusch höre, liefe er davon. Er meide auch den Schein und den Geruch des Feuers. Der Yeti könne drei verschiedene Laute ausstoßen. Der normale Kontaktruf sei das bekannte "huuui", sein Liebesruf sei ein "ko ko ko", und seinem Zorn gebe er durch drohende "uh uh uh" Rufe Ausdruck.
Alle diese geheimnisvollen Indizien bringen mich schon 1980 auf die Idee, daß das Schneemenschenrätsel vielleicht eine ganz einfache Lösung haben könnte. Alles weist darauf hin, daß das mysteriöse Menschentier ein intelligentes Wesen sein könnte, das sich deshalb so erfolgreich vor den Menschen verbirgt. Sonst hätte sich ja in den relativ dicht besiedelten Himalayatälern schon mal ein hieb- und stichfester Beweis finden lassen müssen. Aussehen und Verhaltensmuster werden durch die natürlichen Umstände und den Zwang geprägt, sich vor der menschlichen Gesellschaft verbergen zu müssen. Menschen, die aus religiösen, politischen, sozialen oder kriminellen Gründen die menschliche Gemeinschaft verlassen haben, hat es im Himalaya immer gegeben. Nur so ist es zu erklären, daß noch niemand eine Begegnung mit dem Yeti beweisen konnte. "Der Schneemensch als Ausgestoßener der menschlichen Gemeinschaft" ist ganz sicher eine genauso gute Erklärung wie jede andere.
Vom Schneemenschen hörte ich das erste Mal, als ich im Jahre 1959 nach geglückter Flucht vor den Chinesen auf den ersten sikkemesischen Polizeiposten in der Nähe des Tschumbitales, dem Dreiländereck zwischen Tibet, Sikkim und Bhutan, traf. Dieser erzählte mir, daß die Bewohner dieser Gegend schon des öfteren zwei große, menschenähnliche, mit rotbraunen Haaren bedeckte, Tiere beobachtet hätten. Diese Tiere benähmen sich wie Menschen, bewegten sich aufrecht und gingen Steilhänge in Serpentinen und nicht geradlinig hoch. Die Sherpa und Leptscha des Tschumbitales hätten große Angst vor diesen Tieren, die sie Midre - das heißt auf tibetisch Menschenbär - nennen.
Bam Tso mit Chomolhari am Dreiländereck an der Grenze zwischen
Tibet, Sikkim und Bhutan, 1997
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Anfang 1982 entdeckten indische Soldaten an der Grenze zu Bhutan Höhlenbewohner, die auch in Schnee und Eis ohne Kleidung lebten und den Gebrauch des Feuers nicht kannten. Auf diese "Steinzeitaltermenschen" stießen die Soldaten in der Nähe des Chetak-Passes in einem dichten Wald, in dem hoher Schnee lag. Sowohl die Männer als auch die Frauen seien sehr scheu, hätten mongolide Gesichtszüge und nähmen ihre Nahrung roh zu sich, berichteten die Inder. Ob zwischen den Steinzeitaltermenschen und dem sagenumwobenen Schneemenschen eine Verbindung bestünde, konnte noch nicht geklärt worden.
Jeder, der sich mit Einheimischen über den Schneemenschen unterhalten und vielleicht neue Erkenntnisse gewinnen will, sollte sich in der vielfältigen Namensgebung für dieses mysteriöse Wesen auskennen. Man hört immer wieder die Bezeichnung "abscheulicher Schneemensch", die aus dem englischen "abominable snowman" hergeleitet wird. Dieser Name beruht auf einem Übertragungsfehler aus dem tibetischen und hat seinen Ursprung in einer indisch-britischen Zeitung, die in den zwanziger Jahren in Kalkutta herausgegeben wurde. Dort wurde der Schneemensch als "Metch Kangmi" bezeichnet, was man mit "abscheulicher Schneemensch" übersetzen könnte. Das Wort "metch" gibt es im tibetischen aber gar nicht. Der Verfasser meinte wohl das Wort "miteh", das "dämonenhaft" bedeutet. Das Wort "Kangmi", das man häufig in Tibet hört, heißt nichts weiter als Schneemensch, der zusammen mit dem "miteh" seinen dämonenhaften Zug bekommt. Die Sherpa, die ja tibetischer Abstammung sind, nennen das geheimnisvolle Wesen Yeti Miteh - dämonenhafter Felsmensch. Man findet auch Ausdrücke wie "Migö" - wilder Mensch - und "Midre" - Menschenbär. Die Sherpa des Khumbu nennen das ganze Everestgebiet "Mahalangur Himal", was man als "Schneegebirge des großen Menschenaffen" übersetzen könnte. Allein aus der Namensgebung kann man also die verschiedensten Ableitungen machen.
Ja, und dann gibt es noch die immer wieder photographierten, seltsamen Riesenspuren auf den Gletschern, die ja auch die verschiedensten Auslegungen zulassen. Sie wurden zum ersten Mal im Jahre 1889 in Sikkim gesehen und beschrieben und 1951 von Eric Shipton auf dem Drolambao Gletscher im Grenzgebiet zwischen Rolwaling und Khumbu photographiert. Ähnliche Spuren wurden auch vom Leiter der Ersten Britischen Mount Everest Expedition 1921, Oberst C.K. Howard-Bury, am Lapka La gesehen. Sie waren etwa fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Zentimeter lang und zwölf bis fünfzehn Zentimeter breit. Die Laufrichtung der Spur war gradlinig, die Schrittweite wurde mit fünfunddreißig Zentimeter angegeben. Die Spur hatte die Form einer Bärentatze, der die Krallen fehlen, und ihre Tiefe ließ auf ein Tier von etwa achtzig bis hundert Kilogramm Masse schließen. Besonders eigenartig war ein Zehenabdruck, der nach hinten wies und besonders tief war.
Ich selbst habe 1980 auf dem Drolambao-Gletscher, ganz in der Nähe der Shipton'schen Spuren, einige merkwürdige Abdrücke im Schnee gesehen. Je nach Schneebeschaffenheit und Schattenverhältnissen veränderte sich die Spur von einem Phantasiegebilde, die auf ein geheimnisvolles Wesen schließen lassen konnte, zu einer ganz gewöhnlichen Gämsenspur. Es sind wohl der Wechsel von Schneeschmelze am Tage, Frost in der Nacht und Neuschnee am nächsten Tage, der diesen Spuren die eigentümliche Form verleiht. Es könnte sich aber auch um die Abdrücke durchgelaufener Sherpaschuhe handeln. Wenn die Sohlen fast durchgelaufen sind, und die Zehen sich in den Schnee hineindrücken, dann sorgen Frost und anschließendes Tauen für die ungewöhnliche Größe dieser Spuren. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, und Sonne und Frost verwandeln harmlose Tierspuren oder Sherpafußabdrücke in neue Legenden.
Drolambao-Eisbruch am Big-Pher-Go Shar, der uns fast zum
Verhängnis wird
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Auf dem Drolambao-Gletscher, auf dem Wege zum Trashi Laptsa, im
Hintergrund der über 7 000 Meter hohe Tengi Ragi Tau
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Blick vom Trashi Laptsa nach Westen zum Drolambao-Gletscher
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Die ältesten Berichte über einen wilden Schneemenschen gehen Jahrtausende zurück. Schon in dem indischen Sanskritwerk "Ramayana" wird ein solches Wesen erwähnt. Auch der römische Schriftsteller Plinius beschreibt es, und der Jesuitenpater Athanasius Kirchner berichtet im 17. Jahrhundert, daß er in China von "wilden Gebirgsmenschen" in Tibet gehört habe. Intensive Forschungen mit sensationellen Ergebnissen sollen in der ehemaligen Sowjetunion durchgeführt worden sein, wurden aber nie veröffentlicht.
Als Gast im Basislager der Sowjetischen Everestexpedition '82 bekomme ich den Eindruck, daß die Sowjets über den Schneemenschen tatsächlich mehr wissen, als sie sagen wollen. Konkretes kann ich jedoch auch hier nicht feststellen. Mir wird lediglich gesagt, daß ein Professor Porschnev Yeti-For schungen unternommen habe.
Der Khumbu-Eisbruch mit dem Basislager für die Sowjetische
Mount-Everest-Expedition 1982
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Eindeutige Beweise gibt es bis heute nicht. Auch die Schneemenschenbilder in den Klöstern von Tibet und des Sherpalandes tragen wenig zur Klärung bei. Die Künstler dieser Darstellungen sind sich offensichtlich nicht darüber einig, wie ein Yeti nun wirklich aussieht. Die Bilder wirken wie eine dämonenhafte Darstellung eines Mischwesens zwischen zähnefletschendem Affen, Wolf und Bär mit spitzzulaufender Schädelform, das genauso aussieht wie der mysteriöse Yetiskalp, der, von den Lamas eifersüchtig gehütet, in den beiden Sherpaklöstern Khumjung und Pangpoche aufbewahrt wird.
Der Yetiskalp von Pangpoche wird von der Sherpagemeinschaft als Reliquie verehrt, da er dem Kloster von einem wiedergeborenen Lama, Sangwa Dorje, gestiftet wurde. Seit der Zeit von Sangwa Dorje, der einer der wichtigsten Heiligen der Sherpa ist, wurde die Gompa Pangpoche von dreizehn weiteren Wiedergeborenen geleitet. Wenn man eine durchschnittliche Lebenszeit von dreißig Jahren annimmt, müßte der Skalp also etwa vierhundert Jahr alt sein.
Blick nach Westen auf die Kongde-Ri-Berge und Pangpoche
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Sherpa-Kinder vor der Gompa in Pangpoche
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Im Inneren der Gompa von Pangpoche
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Der Sherpa-Sirdar unserer Expedition von 1980, Nima Lama, sorgt dafür, daß ich dieses merkwürdige Fell in der Gompa sehen kann. Für eine kleine Klosterspende schließt ein alter Lama bereitwillig eine große Holztruhe mit vielen altmodischen Vorhängeschlössern auf. Ich darf den Skalp im dunklen Klosterraum zwar anfassen und photographieren, aber nicht nach draußen ins Tageslicht tragen, um ihn dort genauer betrachten zu können.
Der Skalp sieht aus, als sei die Kopfhaut des geheimnisvollen Wesens oberhalb der Ohren abgeschnitten worden. Es ist keine Naht in dem Fell zu entdecken, und es ähnelt einem spitzzulaufendem, teilweise spärlich mit braunroten Haaren bedecktem Helm. Das schwärzlich, dunkle Leder wirkt dick und spröde. Von der Mitte der Stirn läuft über die Schädelspitze bis zum Nacken ein bürstenartiger Kamm, wie wenn sich bei einem Tier die Haare sträubten. Die Haare sitzen so fest, daß ich in einem unbeobachteten Augenblick nicht in der Lage bin, eines herauszuziehen.
Der Yeti-Skalp und die Hand des mysteriösen Schneemenschen in
der Gompa von Pangpoche
Photo: Copyright: Klaus Dierks
In der gleichen Gompa gibt es auch noch das Skelett einer menschenähnlichen Hand, die ebenfalls von einem Yeti stammen soll. Ohne daß ich sie näher untersuchen kann, sieht es mir so aus, als wäre es eine Menschenhand, in die vor langer Zeit einige nicht zu erkennende Tierknochen eingefügt worden sind.
In der Gompa von Khumjung habe ich es im April 1982 leichter. Der Skalp ist keine Reliquie und wird bei religiösen Tanzfesten zur Freude der Touristen und zum Schrecken der Sherpakinder als Maske getragen. Dawas Kinder führen mich zum Kloster und kichern vor Verlegenheit, als der Skalp, der dem von Pangpoche ähnlich ist, zum Photographieren ins Freie getragen wird.
Im Inneren der Khumjung-Gompa: links Teile des Kangschurs
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Khumjung-Gompa: Mönche mit lamaistischen
Musikinstrumenten
Photos: Copyright: Klaus Dierks
Der Yeti-Skalp in der Khumjung-Gompa
Photo: Copyright: Klaus Dierks
Der Khumjung-Skalp ist während der Britischen Himalaya Expedition 1960, die unter der Leitung von Edmund Hillary stand, von der Gompa ausgeliehen worden, um in London und New York wissenschaftlich untersucht zu werden. Damals wurde festgestellt, daß es sich um ein geschickt geformtes Stück Fell einer Ziegengämse, der Serow Gämse, handelt. Nun wird die Serow Gämse von den Tibetern seit altersher als ein Fabeltier des Himalaya, ein Einhorn, verehrt. Vielleicht ist dieses Einhorn, das die Tibeter "Tschiru" oder "Seru" nennen, genauso wie der Yeti nur ein Teil der bunten, vielfältigen Mythologie des tibetischen Buddhismus.
Dass angeblich ab und zu ein hübsches Sherpamädchen von einem Yeti vergewaltigt wird, kann ja auch eine profane Erklärung haben. Wo kommen sonst all die unehelichen Kinder im Sherpaland her?
Doch was ist nun der Yeti? Ist er ein Flüchtling, ein Riesenaffe, ein blauer tibetischer Bär, eine Gämse, ein Fabelwesen des Lamaismus oder nur ein Kinderschreck? Die Beantwortung dieser Frage muß noch offen bleiben.
Man muß beachten, daß der Himalaya ein sehr junges Faltengebirge ist und seine letzten Auffaltungsphasen erst vor etwa sechshunderttausend Jahren durchgemacht hat. Damals lebten schon die ersten Urmenschen, die schreckerfüllte Zeugen dieser gewaltigen Umwälzung der Erdoberfläche gewesen sein müssen. Ist der Schneemensch vielleicht Nachkomme jener Menschen, die das Emporwachsen des Mount Everest erlebten?
Jedenfalls hörte ich vom Yeti immer nur in jenen Gegenden des Himalaya in denen tibetisch gesprochen wird und die der Glaubenswelt des tibetischen Buddhismus angehören. Auf meinen Expeditionstouren in den Karakorum, nach Kaschmir und in den Himachal Pradesh habe ich nie etwas vom Schneemenschen gehört. Im Gegensatz zum Nicht-Vorhandensein des Yeti im West-Himalaya gibt es in vielen anderen Teilen der Welt Geschichten von wilden Schneemenschen, so etwa im Kaukasus, in der Mongolei und sogar in Nordamerika, wo man ihn "Big Foot" oder "Sasquatchman" nennt.
Wir wissen also nur, daß es einen echten Beweis seines Bestehens bisher nicht gibt. Aber an das Okapi der Urwälder in Zaire hat man ja auch lange nicht geglaubt. Der Yeti paßt in den Himalaya. Wenn es ihn nicht gäbe, müßte man ihn erfinden. Es ist tröstlich, zu wissen, daß es auf unserer entschleierten Erde noch ein paar ungelöste Geheimnisse gibt.